Abrakadabra als Medizin: Wenn Worte heilen sollen

"Verschwinde, du Zahnwurm, trink kein Blut mehr!" – lange bevor Antibiotika, Narkose und Röntgen die Medizin veränderten, versuchten Heilerinnen und Heiler weltweit, Krankheiten mit Worten zu bannen.
Mit Beschwörungsformeln wurden im Mittelalter Krankheitsdämonen oder Körperteile direkt adressiert, etwa Pest-Geister oder die "wandernden Gebärmutterkröte" bei Unterleibsbeschwerden oder Kinderwunsch. Durch diese Personalisierung sollte die vermeintliche Krankheitsursache beschimpft, bedroht und zum Abzug bewegt werden.

In vielen Regionen Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und Europas werden Beschwörungssprüche bis heute in der Volksmedizin oder bei religiösen Ritualen verwendet, meist zusammen mit Kräutern, Massagen und anderen Maßnahmen.
Mit Beschwörung und Hausmitteln gegen DämonenEines der ältesten Beispiele stammt aus Mesopotamien: In einer Formel um 1.800 v. Chr. erzählt jener "Zahnwurm", wie er zwischen Zahn und Zahnfleisch wohnen und Blut trinken will, bevor der Weisheitsgott Ea ihn mit "starker Hand" schlägt. Zur Heilung wurde diese Beschwörung mehrfach rezitiert und ein Arzneigemisch auf den Zahn gelegt. Der Wurm ist Dämon und Krankheitsmodell zugleich: Er erklärt Karies und Schmerzen, die Formel vertreibt ihn, die Salbe lindert die Entzündung.
"Beschwörungen wurden eher für bestimmte Erkrankungen eingesetzt und nicht gleichermaßen für alles: So finden sie sich beispielsweise häufig bei Blutungen, Epilepsie, Zahnschmerzen und Geburten", erklärt die Historikerin Catherine Rider von der University of Exeter
Über die Grenze zwischen Gebet und Hexerei wurde dabei hitzig gestritten. In ihrem Buch "Magic and Religion in Medieval England" beschreibt Rider, wie Theologen, Beichtväter und Mediziner ständig darüber verhandelten, ob eine Formel noch frommes Gebet oder schon verbotene Magie sei. Heilworte mit Bibelzitaten oder Heiligennamen wurden meist geduldet, rätselhafte Silbenfolgen dagegen schnell als potenziell dämonisch gebrandmarkt.

Wichtig ist, dass Beschwörungsformeln hauptsächlich als "ergänzende Therapie" eingesetzt wurden, so Rider schriftlich gegenüber der DW. "In mittelalterlichen medizinischen Büchern werden sie oft zusammen mit anderen Heilmitteln wie Getränken, Bädern usw. aufgeführt, sodass der Arzt und/oder der Patient wählen konnte, welchen Ansatz er verfolgen wollte."
Fachwissen über Symptome und Wirkstoffe stand nicht im Widerspruch zu Beschwörungsformeln, sondern wurde mit ihnen zu einem Gesamtpaket verknüpft, das Körper und Seele zugleich adressieren sollte, so Rider.
Amulette und Zauberworte: Medizin zum UmhängenAuch altorientalische Medizin folgt diesem Doppelprinzip: Exorzisten rezitieren gegen Geister, während Salben, Räucherungen und Tränke verabreicht werden; Amulette in Augen-Form, mit Krankenszenen oder Formeln sollen den Heilsegen dauerhaft an den Körper binden.

In der islamischen Tradition werden bestimmte Koranverse wie die Eröffnungssure oder die beiden Schutzsuren als heilkräftig verstanden, über Kranke rezitiert, auf Papier geschrieben oder ins Wasser gegeben, das der Patient trinkt – Gebet und magische Formel gehen ineinander über.
Die häufig in Zusammenhang mit alternativen Heilmethoden auftauchende Begriff "Hokuspokus" ist eine Lautnachahmung der lateinischen Messeformel "Hoc est enim corpus meum" ("Das ist mein Leib"). Der Begriff ist abschätzend gemeint, da Homöopathie, Akupunktur oder Schamanismus von Medizinern oft als unwirksam oder esoterisch angesehen werden.
Die Heilkraft der WorteWiederholte, autoritativ vorgetragene Worte – von Priester, Exorzist oder Ärztin – können Angst reduzieren, Schmerzen subjektiv dämpfen und die Bereitschaft stärken, belastende Behandlungen zu ertragen.

Catherine Rider ist überzeugt, dass Beschwörungsformeln als eine Art suggestive oder psychologische Unterstützung für die Patienten dienten, also wie eine Art Placebo-Effekt. "Die meisten mittelalterlichen Ärzte erklären sie nicht in diesen Begriffen, aber es gibt eine Abhandlung des mittelalterlichen arabischen Qusta Ibn Luqa aus dem 9. Jahrhundert, in der er darüber spricht, dass Beschwörungen auch helfen, wenn der Patient daran glaubt, dass sie wirken." Der Gelehrte habe damit bereits um 860 n. Chr. den Placebo-Effekt umrissen, so Rider.
Heiliges Placebo: Wie Worte Krankheiten besiegenIn manchen Kulturen gelten Krankheiten als Angriff von Geistern oder zornigen Gottheiten. Beschwörungsformeln machen die Beschwerden dort zu einer verständlichen Geschichte. Wer glaubt zu wissen, welcher Dämon verantwortlich ist, kann die Schmerzen und auch eine schmerzhafte Behandlung besser ertragen.
Aus heutiger Sicht heilen Fieber, Karies oder Depressionen durch Medikamente, Operationen und Psychotherapie. Doch die Geschichte der Beschwörungsformeln zeigt, wie mächtig Worte in Krisen sein können: Sie machen das Unsichtbare, das Unbegreifbare verständlicher.
"Steh auf, dein Glaube hat dir geholfen", soll Jesus laut Neuen Testament zu einem geheilten Aussätzigen gesagt haben. Wahrscheinlich ist das eigentliche Wunder dieser Zaubersprüche gar nicht die angebliche Dämonenaustreibung – sondern die Einsicht, dass Heilung fast immer auch eine Überzeugung braucht, an die man glauben kann.
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