Warum Schokolade wieder zum Luxus wird – die bittere Wahrheit dahinter

Das Glück ist braun und in Stanniolpapier gehüllt, es klebt an den Händen, schmilzt im Mund und duftet nach Frieden. Der Geschmack der ersten Schokolade nach dem Krieg wirkt im Sommer 1945 auf Ruth Klüger „wie ein Beweis, dass das Leben nicht nur aus Angst und Hunger besteht“.
Sie ist 15 Jahre alt. Sie hat als jüdisches Mädchen Auschwitz überlebt, ist wenige Monate zuvor aus dem KZ geflohen. Und nun sitzt sie in Niederbayern vor ihrem ersten Care-Paket. Darin: Dosenfleisch, Haferflocken, Toilettenpapier. Und die berühmt gewordene Ration-D-Militärschokolade („Hershey Bar“). „Es war eine Offenbarung”, schreibt Klüger in ihren Erinnerungen „weiter leben”. „Ich erinnere mich an die Schokolade, wie sie auf der Zunge zerging, und an das Gefühl, dass plötzlich wieder etwas Süßes, etwas Gutes in mein Leben trat.“
Schokolade als Symbol für das Gute, das Süße und Richtige. Viele Kriegskinder erinnern sich an diesen Zaubermoment, als das Leben nach Jahren des Leids wieder Luxus und Genuss zuließ. Sie rochen daran, befühlten den magischen Stoff, aßen ihn zaghaft, in kleinen Bissen. Und nicht wenige hatten Tränen in den Augen.
„Ich habe noch nie so etwas Süßes gegessen”, schrieb 1948 während der Berliner Luftbrücke ein Kind an den „Rosinenbomber“-Piloten Gail Halvorsen: „Ich habe geweint, als ich die Schokolade probiert habe.“ Und Helga Schneider, bei Kriegsende acht Jahre alt, schreibt: „Es war, als würde die Freiheit selbst auf meiner Zunge zergehen.“
Kein Zweifel, dass es Liebe ist, die Mensch und Schokolade verbindet. Die zarte Verführerin hat als Glücksquell und Trostspender einen Ehrenplatz im kollektiven Herzen der Menschheit. Sie ist die Königin der Genussmittel, süße Versuchung und lässliche Sünde in einem. „Schokolade ist kein Ersatz für die Liebe“, befand die US-Autorin Miranda Ingram. „Die Liebe ist ein Ersatz für Schokolade.“
Gut 9,5 Kilogramm Schokolade verputzt jeder Deutsche im Jahr, das entspricht etwa einem Schokoriegel pro Tag. Ein massiver Würfel mit dem gesamten deutschen Jahresverbrauch an Schokolade hätte eine Kantenlänge von gut 80 Metern.
Doch es gibt ein Problem: Die Preise explodieren. Seit 2020 hat sich Schokolade in Deutschland um 32 Prozent verteuert. Das einstige Luxusgut des reichen europäischen Adels ist auf bestem Wege, wieder zum Exklusivgenuss zu werden. Der Jahresumsatz mit Schokolade in Deutschland liegt bei acht Milliarden Euro, weltweit sind es 108 Milliarden Euro, Tendenz stark steigend. Die Lust auf Schoki ist unverändert hoch. Doch es gibt immer weniger Schokolade fürs gleiche Geld. Und das ausgerechnet in Zeiten, deren anstrengende Wirrnis und zermürbender Stress Schokolade ein Stück weit zu zerstreuen helfen könnte.
Beim Blick auf die Supermarktpreise zeigt sich: Tafeln sind 28 Prozent teurer als vor einem Jahr, Schokoriegel kosten sogar 46 Prozent mehr. Das „Lieblingszuckerle“ der Europäer (gut 40 Prozent der globalen Schokoproduktion wird in Europa verknuspert) wird wieder zum Prestigeprodukt. Eine Tafel Milka-Schokolade liegt inzwischen bei 1,99 Euro statt 1,49 Euro, Ritter Sport verlangt bis zu 2,19 Euro für 100 Gramm.
Die Hauptursache: Kakao, der wichtigste Rohstoff für den rasant wachsenden Schokohunger des Planeten, ist so begehrt wie nie. Über viele Jahre lag der Preis für eine Tonne Kakao bei 1700 bis 2500 Euro. Seit 2020 stieg er, zeitweise auf bis zu 9000 Euro pro Tonne. In nur einem Jahr verdoppelte sich der Preis. Kakaobutter ist sogar 115 Prozent teurer.

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Das liegt nicht nur daran, dass gigantische Märkte wie Indien und China die europäische Schokolade für sich entdecken. Das liegt auch daran, dass Kakao - ähnlich wie Kaffee - nur auf endlichen Ackerflächen nahe dem Äquator angebaut werden kann. Es liegt daran, dass es zuletzt wegen Dürren, Überflutungen und massivem Schädlingsbefall zwei schwache Erntejahre hintereinander gab. Und daran, dass Lebensmittelspekulanten an den Rohstoffbörsen in London und New York massenhaft Kakao aufkaufen - und auf steigende Preise warten.
Der Aufruhr, der in der Branche herrscht, ist bis in ein graues Gewerbegebiet in Lippstadt spürbar. Hier hat Christian Frochte-Peters (57), in dritter Generation Chef des Familienunternehmens Peters Pralinen GmbH, zwischen Autohäusern und Möbelläden einen fröhlich-bunten Ort geschaffen, der die Segnungen der Schokolade feiert: Die fünfstöckige „Peters SchokoWelt“ im retro-futuristischen Steampunk-Stil mit Zahnrädern, Dampfdüsen und hohen Zylinderhüten ist Café, gläserne Manufaktur und Ausstellung zur Firmengeschichte in einem - Fabrikverkauf und Führungen inklusive.

Herr der Pralinen: Christian Frochte-Peters in der „Peters SchokoWelt" in Lippstadt."
Quelle: Imre Grimm
Familien fotografieren sich vor dem Logo an der Fassade. Bis zu 400 Busladungen voller Schokofreunde steuern jährlich Lippstadt an, die dann bei Apfel-Karamell-Calvados-Pralinen und Kürbiskernnougat-Kakao-Nibs alle Abnehmvorsätze vergessen. In einer 2000-Quadratmeter-Halle nebenan produzieren 140 Mitarbeiter Pralinen und Gebäck.
Natürlich ist auch der größte Schokohype der letzten Jahrzehnte nicht an Peters vorbeigezogen: die von Influencern zum globalen Trend hochgejazzte Dubai-Schokolade, gefüllt mir Pistaziencreme, Sesam-Mus (Tahini) und Kadayif-Teigfäden (Engelshaar). „Wir waren einer der Ersten, die beim Thema Dubai-Schokolade eingestiegen sind – und einer der Ersten, die es wieder gelassen haben”, sagt Frochte-Peters. „Unsere Chocolatiers haben sich schließlich lieber wieder auf Klassiker mit echter Handwerkskunst konzentriert.“
Der Markt für Pistaziencreme sei zeitweise leer gefegt gewesen. Die Zutatenpreise explodierten. „Die Preisentwicklung war stellenweise kaum nachvollziehbar.“ Ein Kilo Engelshaar kostete im Großhandel üblicherweise zwei Euro. Zwischenzeitlich waren es 20 Euro. „Inzwischen hat sich der Markt gedreht und viele Lager sind voll, doch die Nachfrage ist deutlich zurückgegangen.“
„Schokolade ist Emotion“, sagt Frochte-Peters. „Sie müssen heute auffallen im Markt. Sie müssen Kunden ein gutes Gefühl bieten und eine Fantasiegeschichte schaffen.“ Keimzelle seines Betriebs war eine Eisdiele, die sein Großvater - in Lippstadt als der „Kalte Franz“ eine lokale Legende - schon 1936 eröffnet hatte, „lange vor den Italienern”. Sein Vater stieg dann vor 35 Jahren in die Pralinenproduktion ein. Peters-Pralinen wurden bald bei Lufthansa in der First- und Business-Class verteilt, sind heute in vielen Ländern der Welt im gehobenen Einzelhandel erhältlich, etwa bei Galeria – aber nicht bei Discountern. Das Industriegeschäft ist Frochte-Peters Sache nicht.
Im Massengeschäft werden Produkte länger lagerfähig gemacht, indem die Hersteller die Feuchtigkeit reduzieren. Milchpulver statt Sahne? Fruchtaromen statt echter Früchte? Nicht mit Frochte-Peters. „Das Produkt ist bissfester und länger haltbar, aber weniger lecker.“ Aber auch seine Firma leidet unter den hohen Kakaopreisen. Das Unternehmen bezieht seinen Haupt-Rohstoff nicht vom belgischen Kakao-Weltmarktführer Barry Callebaut, sondern von Lubeca aus Lübeck – flüssig im Tankwagen nach Lippstadt geliefert.

Handarbeit für die süße Verführung: Konditorgesellin Lara-Sophie Sasse bei der Pralinenproduktion.
Quelle: Imre Grimm
Peters ist mit 18 Millionen Euro Jahresumsatz ein David zwischen den Goliaths der Schokoproduktion. Sechs Konzerne beherrschen 80 Prozent des globalen Marktes. Es sind der Marktführer Mars Wrigley (M&M’s, Snickers, Twix) gefolgt von Ferrero (Nutella, Ferrero Rocher, Kinder), Mondelēz (Cadbury, Milka, Toblerone), dem japanischen Konzern Meiji, die Hershey Company (Hershey’s) und Nestlé (KitKat, Smarties). Allein Lindt produziert jährlich 240 Millionen Osterhasen nur für den deutschen Markt. (Und nein, sie werden bei Nichtverkauf nicht in Weihnachtsmänner umgeschmolzen.)
Den Kakaohandel selbst dominieren vier Großkonzerne, deren Namen Endverbrauchern kaum bekannt sind: Barry Callebaut, Cargill, Olam und Ecom. Sie kaufen den Kakao, den 5,5 Millionen Kleinbauern vor allem in Westafrika und Südamerika anbauen. Fast die Hälfte allen Kakaos der Welt kommt aus der Elfenbeinküste, 14 Prozent aus Ghana, 9 Prozent aus Ecuador.
Der Weg von der Bohne zum Genuss ist mühselig. Der pflegeinstensive, anfällige Kakaobaum Theobroma cacao gedeiht nur auf feuchtwarmen Plantagen in Äquatornähe, seine Früchte ähneln braunroten Footbällen, die je gut 30 Kakaobohnen in dickflüssigem Fruchtfleisch enthalten. Schokolade ist also streng genommen - hurra! - Gemüse.
Die Kakaobauern schlagen die Bohnen mit Macheten vom Baum, trennen dann Bohnen und Pulpe und lassen die Bohnen eine gute Woche in Wannen fermentieren, was die Keimung stoppt und den Geschmack intensiviert. Dann trocknen sie die Bohnen eine weitere Woche in der Sonne.
In luftdurchlässigen Jutesäcken geht die allermeiste Ware an die wenigen Hersteller, die den Weltmarkt dominieren. In deren Fabriken werden die Bohnen gesäubert und geröstet, um die Schale abzulösen und Bakterien zu töten. Die nackten Bohnen werden mit Pressluft von letzten Schalenresten befreit und zu einer dickflüssigen Kakaomasse zermahlen – der Grundstoff für zehntausende Schokoladenvarianten.
Die Masse wird je nach Wunschsorte mit Zucker, Kakaobutter, Milchpulver und Aromen vermischt und dann stunden- bis tagelang in Conchiermühlen gerührt und belüftet. Dann reift sie in großen Behältern mitunter wochenlang, bis sie erneut kontrolliert erhitzt und immer wieder abgekühlt wird, um die perfekte Konsistenz und Textur zu erhalten. Erst dann kann sie zu Tafeln gegossen oder zu Konfekt, Riegeln oder Pralinen geformt werden.
Was unterscheidet perfekte Schokolade von billiger? Es ist die Textur der Zuckerkristalle. Fabrikanten unterscheiden sechs „Erstarrungszustände“, die sich in Aussehen, Geschmack und Schmelzpunkt unterscheiden. Die Form 5 ist perfekt. Sie zu erreichen, ist aufwändig. Der Lohn der Mühe: Sie schmilzt bei 33,9 Grad Celsius, also nahe der Körpertemperatur. Zu erkennen ist „bessere“, lange conchierte Schokolade an einer geraden, glatten, kaum faserig-weißlichen Bruchkante.
Doch den milliardenschweren Markt begleitet ein bitterer Beigeschmack - es ist die dunkle Seite der Schokolade. Auch 30 Jahre nach dem Versprechen der größten Hersteller, der Kinderarbeit im Kakaoanbau bis 2005 den Garaus zu machen, arbeiten nach einer Studie der Universität Chicago noch immer bis zu 1,5 Millionen Minderjährige auf den Kakaoplantagen vor allem in Westafrika. Zehntausende von ihnen werden zwangsweise aus Mali oder Burkina Faso an die Elfenbeinküste verschleppt oder von ihren mittellosen Eltern „verkauft“ und arbeiten unter sklavereiähnlichen Bedingungen.
Das bittere Fazit der Initiative Inkota-Netzwerk: „Die Kinderarbeit hat in den letzten 10 Jahren nicht abgenommen.“ Der Anteil der Kinder, die während der Arbeit gefährlichen Chemikalien ausgesetzt seien, sei sogar gestiegen. Viele Konzerne haben eigene Überwachungs- und Abhilfesysteme gegen Kinderarbeit gestartet (Child Labour Monitoring and Remediation Systems: abgekürzt: CLMRS). Doch die Effekte sind gering, solange die Bauern nur ein gutes Drittel eines existenzsichernden Einkommens beziehen.
Hersteller versuchen mit bunten Labels, Fairness und ökologische Verantwortung zu suggerieren. Auch Kunden achten verstärkt auf nachhaltige und unter fairen Bedingungen produzierte Schokolade. Doch es ist praktisch unmöglich, Schokolade zu kaufen, deren Hersteller wirklich garantieren können, dass an keiner Stelle der Lieferkette Kinderarbeit im Spiel war. Die Industrie hatte sich zum Ziel gesetzt, die Kinderarbeit im Kakaoanbau bis 2020 um 70 Prozent zu reduzieren. Fazit von Inkota-Experte Johannes Schorling: „Die Schokoladenindustrie hat ihre Versprechen gebrochen. Verbraucher in Deutschland müssen damit rechnen, dass in ihrer Schokoladentafel mit hoher Wahrscheinlichkeit ausbeuterische Kinderarbeit steckt.“

Begehrter Rohstoff: Kakaobohnen können nur am Äquator angebaut werden.
Quelle: Imre Grimm
Wie unmenschlich mancherorts die Arbeitsbedingungen sind, zeigte zuletzt eine WDR-Reportage des Filmemachers Michael Höft. Bei Dreharbeiten auf Kakaoplantagen in Elfenbeinküste hatte er keinerlei Mühe, 13-jährige Kinder bei der Arbeit zu finden. Sie schuften von morgens bis abends. Sie gehen nicht zur Schule. Sie tragen schwere Säcke und hantieren in Sandalen und ohne Schutz mit giftigem Glyphosat oder anderen in Europa längst verbotenen Pestiziden. Und kein Arzt versorgt die eitrigen Wunden, die die Macheten an ihren Beinen hinterlassen. Wachmänner hindern sie an der Flucht.
„Wenn ich mir ein Kind aus Benin besorge, muss ich den Vermittler bezahlen“, sagt ein Plantagenbesitzer offen in Höfts Kamera. „Einen Teil des Geldes bekommt dann der Vater.“ Einen festen Lohn zahlt der „Besitzer“ selten. Mit 17 oder 18 Jahren dürfen sie dann ihrer Wege ziehen. Ohne Ausbildung. Ohne lesen und schreiben zu können. Und ohne jede Perspektive.
Schokolade enthält die Aminosäure Tryptophan, eine Vorstufe des „Glückshormons“ Serotonin, außerdem das anregend wirkende (und für Hunde gefährliche!) Alkaloid Theobromin - die „Speise der Götter“ (aus dem Griechischen „theos/Gott“ und „broma/Speise“). Zucker und Fett aktivieren zudem das Belohnungssystem im Hirn, das sich mit der Ausschüttung von Dopamin bei Ihnen dafür bedankt, dass Sie trotz des höheren Preises doch wieder Toffifee gekauft haben. Auch Endorphine werden ausgeschüttet, die stimmungsaufhellend und schmerzlindernd wirken. Dunkle Schokolade senkt durch enthaltene Antioxidantien zudem das Risiko von Herzinfarkten und Schlaganfällen sowie den Cholesterinspiegel. Je dunkler die Schokolade, desto höher der Kakaoanteil und damit der Anteil der Flavanole, die die Blutgefäße elastischer machen und Arterienverkalkung vorbeugen können und nicht nur im Kakao, sondern auch in Tee, Äpfeln und Beeren stecken. Das ist die chemische Seite. Ein anderer Effekt aber dürfte viel mächtiger sein. Schokolade ist nicht nur ein mildes Antidepressivum, sondern vor allem ein mächtiger Erinnerungsgenerator. Ihr Genuss führt uns zurück zu Momenten reinen Wohlbefindens auf dem Schoß unserer Großmutter oder der Rückbank eines Schulbusses. Die schmelzende Textur und der volle, süße Geschmack lösen ein Gefühl von Genuss und Zufriedenheit aus.
Von dem Luxusprodukt, dessen Rohstoff sie ernten, haben sie keine Ahnung. Nur zwei Prozent der weltweiten Schokoproduktion geht nach Afrika. Die meisten dieser Kinder haben noch nie im Leben Schokolade gegessen. Sie können sich nicht erinnern, wann sie zuletzt ihre Eltern gesehen haben. „Meine Eltern hatten nicht das Geld, mich in die Schule zu schicken“, sagt ein Zwölfjähriger. Das Fazit von Reporter Höft: Der angebliche Kampf der Konzerne gegen Kinderarbeit ist kaum mehr als ein Marketingversprechen.
Nicht alle Formen von Kinderarbeit sind heikel. Verboten sind jedoch gemäß den Kernarbeitsnormen 138 und 182 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) Zwangsarbeit und Kindersklaverei sowie alle Formen von Arbeit, die sich schädlich auf die Sicherheit oder die körperliche und seelische Gesundheit von Kindern auswirken können. Nach Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat jeder Mensch das Recht auf „gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen“ sowie „gerechte und befriedigende Entlohnung“, die „ihm und der eigenen Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert“.
Hersteller und Einzelhandel definieren zwar immer neue Fairnessziele, etwa im Forum Nachhaltiger Kakao, das die Bundesregierung ins Leben rief - aber der Vollzug zieht sich. Aldi Süd meldet, es sei „extrem schwierig selbst für zertifizierten Kakao genau zu wissen, woher der Kakao kommt“. Barry Callebaut versichert, 91 Prozent der Bauern in seinen Lieferketten unterlägen bereits CLMRS-Systemen. Aber: Dass Kinderarbeit flächendeckend dokumentiert wird, ist nicht gleichbedeutend mit ihrer Bekämpfung.
Der Lübecker Lieferant Lubeca meldet gar: „Aufgrund der stark gestiegenen Kakaopreise verzichten viele Kunden momentan auf Zertifizierungen.“ Das heißt: Das Thema Nachhaltigkeit und Fairness verliert an Momentum, sobald der Kostendruck steigt.
Die massenhafte Kinderarbeit ist das dunkle Geheimnis der Schokoladenwelt, quasi die bittere Kehrseite der süßen Verführung. Vom Reichtum der Schokobranche kommt wenig in den Erzeugerländern an. Die meisten Kakaobauern leben unterhalb der Armutsgrenze. Vom Preis einer Tafel Schokolade landen etwa 36 Prozent beim Einzelhandel, 23 Prozent beim Hersteller, zehn Prozent beim Hersteller der Kakaomasse (Vermahler), sechs Prozent bei Zwischenhändlern und Exporteuren, 15 Prozent bei den Herstellern anderer Zutaten, ein paar Prozent bei weiteren Dienstleistern - und nur vier bis sechs Prozent beim Kakaobauern.
Hinzu kommt: Kakao ist ein „Flächenfresser“. Um ein Kilogramm zu produzieren, benötigen die Farmer 20 Quadratmeter Land. Beim Reis sind es nur 2,5, beim Weizen gar nur 1,8 Quadratmeter. Also wird massenhaft der Wald abgeholzt. Die Elfenbeinküste hat seit 1960 gut 80 Prozent ihres Regenwalds verloren.
Auch bei Peters in Lippstadt ist man sich der ethischen Probleme der Kakaoproduktion bewusst. Frochte-Peters: „Unser Kakao stammt von langjährigen Partnern aus Südamerika. Unser Lieferant garantiert nicht nur höchste Qualität, sondern auch die Einhaltung klarer Standards in Sachen Klimaschutz, Nachhaltigkeit und faire Löhne.“ In Südamerika seien die Arbeitsbedingungen besser, die Böden fruchtbarer – „und die Qualität des Kakaos liegt deutlich über dem Niveau vieler anderer Anbauregionen, insbesondere Westafrikas“.
Das geplante europäische Lieferkettengesetz, sagt der Schokoladenchef, bedeute für Kakao- wie auch für Kaffeeproduzenten, dass sie bis in die entlegensten Gebiete Funkmasten aufstellen müssten, um jeden einzelnen Sack tracken zu können. Dafür sei vor Ort aber kein Geld da. Die Produzenten können es sich nicht leisten, die europäischen Vorgaben zu erfüllen – also fällt der Markt weg.
Warum bezahlen dann nicht die Importeure die Funkmasten und die notwendige Infrastruktur? „Bei den Global Playern wird es diese Überlegung sicher geben. Aber es gibt ja noch andere Märkte als Europa – ohne solche Vorgaben. „Dann verkaufen sie den Kakao eben nach China oder Indien, wo die Nachfrage nach Luxusprodukten gerade massiv steigt. Und Europa geht leer aus.“
Funkmasten und nachverfolgbare Säcke lösten das Problem der Kinderarbeit nicht, sagt Frochte-Peters. „Importeure müssen den Kakaobauern ordentliche Preise bezahlen“, sagt er. „Andernfalls wird weiter die ganze Familie auf den Plantagen arbeiten. Europa kann das nicht allein entscheiden. Sonst verändert ein Lieferkettengesetz einfach nur die Handelswege. Und die Schokolade wird noch teurer.“
Der globale Siegeszug der „festen” Schokolade ist ein Phänomen der letzten knapp 200 Jahre. Kakao jedoch ist ein uraltes Zaubermittel. Schon vor mehr als 5000 Jahren war Kakao Zeremonienutensil, Statussymbol, Währung und Wohltat in einem, ein „Geschenk der Götter“, wie die Azteken, Maya, Mokaya und Olmeken glaubten, die großen Kulturen Zentralamerikas. Die Maya färbten ihren Kakao mit Annattosamen rot, so sollte er dem Blut ihrer rituellen Opfer ähneln, quasi die vegane Variante von Opferblut.
Bitter und wenig geschmeidig schmeckte dann das, was spanische Eroberer um 1550 aus Mittelamerika nach Europa mitbrachten. 1606 rührte der italienische Kaufmann Francesco Carletti, inspiriert von Reisen nach Westindien, in seiner Heimat die erste Trinkschokolade an. Das Trendgetränk verbreitete sich rasch nach Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien, die Niederlande und die Schweiz.
Gut 300 Jahre lang stürzte man das Gebräu im Hochadel mutig herunter, weil es rar und modisch war. Die Londoner Oberschicht traf sich in „Schokoladenhäusern“ unter wohligem Schaudern zu einem als angenehm sündig empfundenen Genuss.
Im Jahr 1828 ließ sich der niederländische Chemiker Casparus van Houten ein Pressverfahren zur Extraktion von Kakaobutter aus geschälten Bohnen patentieren. Zurück blieb: „holländischer Kakao“ in Pulverform. 1847 dann stellte die englische Firma J.S. Fry & Sons die ersten fest geformten Tafeln aus Kakaopulver, Zucker und Kakaobutter her – der Auftakt für die heutige, globale Liebesaffäre mit der Schokolade. Der Schweizer Chemiker Henri Nestlé schließlich dehydrierte Milch zu Milchpulver, der Schokoladenhersteller Daniel Peter rührte es in die noch immer bittere Schokolade und erfand die mildere „Milchschokolade“. 1879 entwickelte der Schweizer Rodolphe Lindt das „Conchieren“.
Am Ende der historischen Entwicklung steht all das, was Ruth Klüger vor 80 Jahren die Tränen in die Augen trieb. Und was heute bei Peters in Lippstadt in den übervollen Regalen liegt. Kirschwasser-Trüffel. Nougat-Variationen. Mandel-Sahne-Marmor-Pralinen. Royal-Macadamia-Vanille.
Praktisch niemand kann sich dieser Verlockung entziehen. Es ist wahr, was der amerikanische Schriftsteller John Tullius einst schrieb: „Neun von zehn Leuten mögen Schokolade. Der zehnte lügt.“
rnd