Schlingensiefs Anwalt und Kettensägenschwinger Dietrich Kuhlbrodt

200 Stufen klettert der mittlerweile 92-jährige Dietrich Kuhlbrodt bergan, um zu seinem kleinen Wohnhaus in Hamburg-Altona zu gelangen. Es ist vor allem aber seine Neugier und Unangepasstheit, die ihn jung hält. Er war in seinem langen Leben Staatsanwalt, Autor, Filmkritiker, Schauspieler und noch mehr, arbeitete mit dem „Nazijäger“ Fritz Bauer ebenso zusammen wie mit Rainer Werner Fassbinder, Werner Schroeter, Vlado Kristl, Lars von Trier oder Christoph Schlingensief.
Diese Umtriebigkeit währt fort, wenn er seit dem Tod seiner Frau Brigitte Kausch vor zwei Jahren dann doch etwas kürzer tritt. Er hält sich länger im gemeinsamen Haus auf, hütet ihr unverändert gebliebenes Zimmer, nimmt ihre dort noch schwingenden Energien auf oder spricht mit seinem inzwischen auch schon recht angegrauten und zerknitterten Stoffhund.
„Wauwi“ begleitet ihn schon seit der „Operation Gomorrha“ im Sommer 1943, als die Kuhlbrodts während der Bombardierung Hamburgs über Wochen hinweg Nacht für Nacht im Keller saßen. Wenn der Luftschutzwart nicht einschritt, huschte der kleine Dietrich manchmal ins Freie, um mit „Wauwi“ die Illuminationen am Nachthimmel über der malträtierten Hansestadt zu bestaunen: die riesigen, bedrohlich dröhnenden B-17-Bomber, die von ihnen eingesetzten Brandbomben und die vorher zur Zielmarkierung abgeworfenen „Tannenbäume“. Dies zum Thema Neugier.
Soundtrack von Helge SchneiderVon all dem und noch viel, viel mehr erzählt Dietrich Kuhlbrodt im Film „Nonkonform“ auf ungemein sinnliche und ironische Weise. Der Regisseur Arne Körner kontert die überschäumende Rede mit einer adäquaten Bilderflut, gespeist aus Filmzitaten, privaten Archivalien und aktuellen Aufnahmen. Manchmal sitzen der Held und sein Chronist auch nebeneinander auf dem Sofa, schauen sich Ausschnitte an und kommentieren das Gesehene. Zusammengehalten wird diese knapp zweistündige biografische Collage vom unentwegt dudelnden, launischen Jazz-Soundtrack Helge Schneiders. Bei dieser kaskadenartig angelegten Methode mögen sich hin und wieder sachliche Fehlerchen einschleichen – langweilig wird das Ganze jedoch an keiner Stelle.
Großen Raum nimmt die Arbeit des Porträtierten in der „Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ ab Mitte der Sechziger in Ludwigsburg ein. Seine Erinnerungen machen die unappetitlichen und oft wirksamen „Schlussstrich“-Versuche der alten NS-„Eliten“ nachvollziehbar. Kuhlbrodt lehnte sich hartnäckig gegen den angestrebten Konsens auf, dass es quasi keine Verbrechen, sondern lediglich Pflichterfüllung mit vielleicht einigen Ausrutschern gegeben haben soll.
Im berüchtigten Fall der systematischen Ermordung von behinderten Kindern der Alsterdorfer Anstalten machte er mit deren Leiter Pastor Karl Friedrich Lensch und Kurt Struve, dem Kopf der Hamburger Gesundheitsverwaltung, zwei Haupttäter aus, die er zur Verantwortung zu ziehen hoffte. Nach Anfangserfolgen wurden ihm immer mehr Steine in den Weg gelegt. Nach seinem Scheitern wurde er in die Brandschutzabteilung versetzt.
Scheitern als ChanceDer ewig nonkonforme Titelheld Kuhlbrodt (nicht zu verwechseln mit dem geschätzten Schriftsteller und Filmkritiker-Kollegen Detlef Kuhlbrodt) geht nicht nur leidenschaftlich gern zu Fuß und trainiert an Geräten zum Muskelaufbau, er tritt auch in Techno-Clubs auf und engagiert sich in der queeren Szene.
Und er ist gern unterwegs. Die aktuelle Reise führt ihn nach Berlin, um im Krokodil-Kino sein Filmporträt sowie die soeben in einer erweiterten Neuauflage erschienene Autobiografie vorzustellen. Mit Berlin verbindet ihn vor allem die Theaterarbeit für Christoph Schlingensief. Fünf Jahre lang wirkte er als emblematische Figur an der Volksbühne. Als juristischer Beistand ermöglichte er 1998 die Gründung einer Kleinstpartei, die bald wieder einging. Ihr Slogan „Scheitern als Chance“ hat Bestand.
92 Jahre Nonkonform. Filmvorführung, Gespräch und Buchpremiere mit Dietrich Kuhlbrodt, am 15. Juli um 20 Uhr im Kino Krokodil, in Zusammenarbeit mit dem Verband der deutschen Filmkritik
Berliner-zeitung