Nach Olympiasieg von Boxerin Khelif: Was sagen Testosterontests überhaupt aus und wie sinnvoll sind sie?

Bei den Boxweltmeisterschaften in Liverpool (4. bis 14. September) dürfen Sportlerinnen nur dann in der Frauen-Kategorie starten, wenn sie bei einem sogenannten Geschlechtstest bewiesen haben, dass sie „weiblich“ sind. Das hat der Weltverband des olympischen Boxsports World Boxing entschieden. In der Begründung heißt es, die Richtlinie solle die „Sicherheit aller Teilnehmer gewährleisten und gleiche Wettbewerbsbedingungen für Männer und Frauen schaffen“.
Die Boxerin Imane Khelif hat nun beim Internationalen Sportgerichtshof (Cas) Berufung gegen die Entscheidung von World Boxing eingelegt. Um die Geschlechtsidentität der Boxerin hatte es im vergangenen Jahr im Rahmen der Olympischen Spiele in Paris hitzige Debatten gegeben, nachdem sie und eine weitere Boxerin bei der vergangenen WM nicht antreten durften. Der Grund: Sie hatten bestimmte Tests nicht bestanden.
Welche das genau waren, ist unklar. Der Verband International Boxing Association (IBA) erklärte damals lediglich, die Boxerinnen hätten „im Vergleich zu anderen weiblichen Teilnehmern Wettbewerbsvorteile“. Es soll sich nicht um Testosterontests gehandelt haben. Daraufhin entbrannten Debatten darüber, ob Khelif eine „richtige“ Frau, der Boxkampf überhaupt fair gewesen sei.
Das Internationale Olympische Komitee (IOC) dagegen verteidigt seine Entscheidung: „Wie kann jemand, der als Frau geboren wurde, aufgewachsen ist, an Wettkämpfen teilgenommen hat und einen Pass besitzt, nicht als Frau betrachtet werden?“, fragte IOC-Präsident Thomas Bach bei einer Pressekonferenz in Paris. „Wir werden uns nicht an einem politisch motivierten Kulturkampf beteiligen.“
Zuvor hatte bereits IOC-Sprecher Mark Adams gesagt, die Boxerinnen seien „uneingeschränkt teilnahmeberechtigt“. „Sie sind laut ihres Passes Frauen. Sie sind ganz normale Sportlerinnen, die seit vielen Jahren im Boxsport aktiv sind“, sagte Adams. „Ich glaube, es ist nicht hilfreich, Sportlerinnen, auf diese Weise zu stigmatisieren.“ Jeder und jede habe die Verantwortung, sich nicht an einer „Hexenjagd“ zu beteiligen.

Der Ratgeber für Gesundheit, Wohlbefinden und die ganze Familie - jeden zweiten Donnerstag.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.
Annet Negesa kennt die Debatten um Geschlechtsidentität am eigenen Leib. Die Mittelstreckenläuferin war 2011 gerade erst afrikanische Meisterin über 800 Meter geworden und fieberte auf ihren Start bei den Olympischen Spielen in London 2012 hin. Dann erhielt sie einen Anruf und erfuhr: Wegen ihrer hohen Testosteronwerte darf sie nicht daran teilnehmen. „Ich war gerade mal 20 Jahre alt und hatte keine Ahnung, was das bedeutet“, sagt sie im Gespräch mit dem RND. Nach Untersuchungen von Ärztinnen und Ärzten des Leichtathletikweltverbandes „World Athletics“ (damals: IAAF) kam heraus, dass innenliegende Hoden ihre hohen Testosteronwerte verursachten.
Negesa war intergeschlechtlich – ohne dass sie davon selbst wusste. Sie willigte in eine Behandlung ein, die ihr wieder die Teilnahme an Wettkämpfen erlauben würde. Bei einer Operation in Uganda wurden ihr daraufhin die innenliegenden Hoden entfernt. Negesa sagt bis heute, dass sie darüber nicht aufgeklärt wurde. „Ich wurde operiert, obwohl ich nicht krank war und ohne dass ich davon wusste“, sagt sie. „Ich bin von einer medikamentösen Therapie ausgegangen.“ World Athletics bestreitet das.
In einem Statement des Verbandes heißt es, man weise „entschieden jeden Hinweis zurück“, dass IAAF (heute: World Athletics) an der Behandlung von Negesa beteiligt gewesen sei oder ihr eine Behandlung empfohlen hätte. Negesa zog nicht vor Gericht. Zu gering die Erfolgsaussichten, zu wenig finanzielle Unterstützung. „World Athletics ist eine große Organisation und sie haben alles abgestritten. Da braucht man gute Anwälte und ich hatte kein Geld, von dem ich das hätte bezahlen können“, sagt Negesa.
Dabei waren die Folgen für sie enorm. „Mein Körper war ein anderer nach der Operation. Ich hatte das Gefühl, ich kann nie wieder laufen“, erzählt sie. „Dabei war Laufen etwas, das mich immer sehr glücklich gemacht hat.“ Eine Nachsorge gibt es nach dem Eingriff nicht, auch wusste sie lange nicht, dass sie von nun an Hormone nehmen muss. „Ich hatte sieben Jahre lang Probleme mit den Hormonen in meinem Körper“, sagt sie. „Ich wurde depressiv und verlor mein Einkommen und die Förderung meiner Universität. Ich hatte das Gefühl, ich habe keine Zukunft mehr.“
Bis heute hat Negesa an keinem Wettbewerb mehr teilgenommen. Auch das öffentliche Outing hatte für sie Konsequenzen. Sie konnte nicht mehr zurück in ihr Heimatland Uganda. „Als intersexuelle Person wäre mein Leben dort bedroht gewesen“, sagt sie. Deswegen beantragte sie Asyl in Deutschland, welches 2019 bewilligt wurde. „Das war eine harte Zeit für mich. Es war eine Art Stress, der mich körperlich und psychisch sehr belastet hat.“
Früher machten viele Sportverbände umstrittene „Geschlechtstests“, bei denen die Sportlerinnen abgetastet wurden. Heute reicht für viele Verbände in der Regel ein Bluttest, um die Frage zu beantworten: Ist diese Frau „Frau genug“, um starten zu dürfen? Als Maß der Dinge gilt dann das Testosteronlevel. Fällt es unter einen gewissen Grenzwert, dürfen sie starten. Ist es höher, müssen die Sportlerinnen es entweder medikamentös senken – oder ihnen wird die Startberechtigung entzogen.
Das IOC gibt seit zwei Jahren keine Grenze mehr vor, sondern überlässt es den jeweiligen Verbänden, diese je nach Sportart und auf Basis wissenschaftlicher Forschung festzulegen. Ein Beispiel: Um an Frauenwettbewerben teilnehmen zu dürfen, müssen Leichtathletinnen zwei Jahre lang einen Testosteronwert von unter 2,5 Nanomol pro Liter Blut (nmol/L) nachweisen – und zwar in allen Disziplinen. So schreibt es World Athletic vor.
Was zu dem erhöhten Testosteronwert führt, ist unterschiedlich. In der Regel sind jedoch Athletinnen betroffen, die Varianten der Geschlechtsentwicklung („Differences of Sex Development“, kurz DSD) aufweisen. Damit sind keine trans Frauen gemeint, sondern intersexuelle Personen. Das bedeutet, dass eine Frau weibliche Genitalien hat, aber auch Hodengewebe.
Man kann die Testosteronregel als einen Versuch sehen, die Fairness des Wettbewerbs zu gewährleisten. World-Athletic-Chef Sebastian Coe argumentierte gegenüber dem „Spiegel“, er wolle mit der Regel Frauenwettbewerbe schützen: „Tun wir dies nicht, wird keine Frau jemals wieder einen Wettkampf gewinnen.“
Das ist zunächst verständlich. „Das Unbehagen, selbst keine Chance mehr zu haben, wenn jemand deutliche Vorteile hat, kann man ja nachvollziehen“, sagt Volker Schürmann, Sportphilosoph an der Deutschen Sporthochschule in Köln, im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Ein fairer Wettbewerb brauche immer zwei Grundparameter: „Es steht vorher nicht fest, wer gewinnt und die Unterschiede müssen durch eigene Leistung ausgeglichen werden können“, erklärt Schürmann. Männer haben einen sportlichen Leistungsvorteil gegenüber Frauen, deswegen treten sie in unterschiedlichen Kategorien an.
Der IOC schreibt in den Rahmenbedingungen für Fairness, Integration und Nichtdiskriminierung aufgrund von Geschlechtsidentität und Geschlechtsunterschieden, die Glaubwürdigkeit des Leistungssports hänge von „gleichen Wettbewerbsbedingungen ab, bei denen kein Athlet einen unfairen und unverhältnismäßigen Vorteil gegenüber den anderen hat“.
Aber wird der Wettbewerb wirklich fairer durch eine Testosteron-Grenze? Das ist laut Schürmann nicht sicher. „Das erste Problem ist: Es ist völlig unklar, erst recht in Bezug auf unterschiedliche Sportarten, was genau dazu beiträgt, dass Männer in sportlicher Hinsicht leistungsfähiger sind als Frauen“, sagt Schürmann. Auch soziale Parameter könnten eine Rolle spielen, nicht nur biologische. Die binäre Einteilung bei Sportwettbewerben ist aus seiner Sicht daher nie mehr gewesen als eine „Notlösung“. „Es gibt aktuell nur leider noch keine bessere.“
Zum Thema fairer Wettbewerb heißt es vom IOC auch: „Jeder Mensch hat das Recht, Sport ohne Diskriminierung und in einer Weise auszuüben, die seine Gesundheit, Sicherheit und Würde respektiert.“ Fairness bedeutet also gleiche Bedingungen, aber auch Schutz vor Diskriminierung. Diese sieht Sportphilosoph Schürmann bei der Testosteron-Regel ganz klar verletzt.
„Gerade haben wir die Situation, dass Frauen gesagt wird: Entweder du senkst deinen Testosteron-Pegel durch einen medizinischen Eingriff oder du darfst nicht mehr teilnehmen. Da kann man nicht mehr von Freiwilligkeit sprechen, das ist ein Verstoß gegen die Menschenwürde“, sagt Schürmann. „Man kann nicht die Fairness des Wettkampfes dadurch gewährleisten, indem man gegen die Würde verstößt.“
Eine, die sich seit Jahren dagegen wehrt, durch Medikamente ihren Testosteronwert zu senken, ist die zweifache 800-Meter-Olympiasiegerin Caster Semenya. Sie klagte gegen die Regeln und verlor zunächst in allen Instanzen. Menschenrechtlich sind die Regeln jedoch fraglich. Das zeigt unter anderem das Urteil des Europäischen Menschengerichtshofs, dass sowohl das Verbot der Diskriminierung als auch das Recht auf Achtung des Privatlebens verletzt worden sei. Dem schloss sich die oberste Kammer im Juli in Teilen an. Nicht entschieden hat sie jedoch über die Frage, ob die Absenkung des Testosterons bei Läuferinnen mit erhöhtem Pegel diskriminierend ist.
Payoshni Mitra war Teil des zehnköpfigen Teams, das vor dem Internationalen Sportgerichtshof für Caster Semenya aussagte. Die ehemalige Badmintonspielerin ist eine der bekanntesten Sportrechtsaktivistinnen. Sie hat sich intensiv mit der Abschaffung von Geschlechtstests im Frauensport und Testosteron-Obergrenzen beschäftigt und unterstützt auch Annet Negesa. Auch sie hält die Testosteron-Grenzen für fragwürdig. „Auch wenn injiziertes Testosteron einen Wettbewerbsvorteil bringen kann, ist völlig unklar, wie das mit körpereigenem ist“, sagt sie im Gespräch mit dem RND. Es gebe viele Wechselwirkungen, die nicht ausreichend erforscht seien.
Und auch innerhalb der DSD-Frauen herrsche eine große Vielfalt. „Es gibt DSD-Frauen, die zwar einen hohen Testosteronspiegel haben, aber ihre Muskeln reagieren darauf nicht. Selbst wenn das körpereigene Testosteron eine Wirkung hätte, hätten sie davon keinen Vorteil“, sagt Mitra. „Es gibt keine definitive Antwort. Eine Testosteron-Obergrenze ist eine viel zu große Vereinfachung. Sie wird der Komplexität der Sache und Uneindeutigkeit der Studienlage nicht gerecht.“
Aus ihrer Sicht ist auch das Argument des Schutzes für Frauen hinfällig. „Im Frauensport gibt es viele Probleme: Ungleiche Ressourcenverteilung, zu wenig Frauen in Führungspositionen, unausgeglichene Medienrepräsentation und so weiter“, sagt Mitra. „Wenn man wirklich etwas für den Frauensport tun will, sollte man damit anfangen und nicht eine Handvoll DSD-Athletinnen, bei denen es keine wissenschaftlichen Beweise gibt, dass sie wirklich einen Vorteil haben, ausschließen.“
Die Testosteron-Obergrenzen sind demnach eher eine Machtdemonstration als eine tatsächliche Hilfe für Frauen. „Wie viele DSD-Sportlerinnen haben eine Medaille bei einer großen Leichtathletikmeisterschaft gewonnen? Der einzige Name, den man immer wieder hört, ist Caster Semenya“, sagt Mitra. „Sind diese wenigen wirklich eine Gefährdung für die Fairness des Frauensports? Ich denke nicht.“
Die Olympiasiegerin Khelif äußerte sich nach einigen Tagen selbst zu den Vorwürfen. In einem Interview mit dem Videoportal SNTV sagte sie, man solle aufhören, „Athletinnen zu mobben, weil es massive Auswirkungen hat. Es kann Menschen zerstören, es kann die Gedanken, den Geist und den Verstand von Menschen töten.“
Auch Annet Negesa warnt im Gespräch: „Eine öffentliche Diskussion darüber, ob diese Frau eigentlich ein Mann ist, kann das Leben dieser Person sehr stark beschädigen.“ Ihr größter Traum sei zerstört worden durch diesen Eingriff, so Negesa. „Ich versuche immer noch einen Umgang damit zu finden. Aber es gibt nichts Vergleichbares, für das es sich lohnen würde, stark zu sein.“
Was muss sich also ändern? Payoshni Mitra appelliert an die Verantwortlichen der Wettkämpfe. „Die Verwaltung, die Sportfunktionäre und die Aufsichtsbehörden müssen sich auf den neuesten Stand bringen“, sagt sie. „Der Sport ist sehr eurozentristisch und viele haben noch eine sehr enge Sichtweise, die sich mit Andersartigkeit schwertut, sie als Bedrohung wahrnimmt. Sie müssen ihre Perspektive erweitern und Frauen in ihrer ganzen Vielfalt akzeptieren. Erst dann kann Sport auch für DSD-Athletinnen sicher werden.“
Die Rahmenrichtlinien seien ein „erster guter Schritt“, aber das IOC müsse mehr tun. „Die Fifa zum Beispiel hat großartige Arbeit geleistet. Es gibt im Fußball DSD-Athleten, die ohne Weiteres bei den Olympischen Spielen in Paris antreten können. Ich würde mir wünschen, dass die IOC auch proaktiver vorgehen und Richtlinien veröffentlichen würde, an denen sie schon seit Jahren arbeiten“, sagt Mitra.
Gleiche Wettbewerbsbedingungen seien ohnehin illusorisch. „Viele unserer Athletinnen kommen aus wirtschaftlich benachteiligten Verhältnissen. Wir haben unterschiedliche Körper. Es gibt kein Konzept für gleiche Ausgangsbedingungen im Sport. Wenn man versucht, dieses Ziel zu erreichen, nicht über wirtschaftliche Unterschiede, nicht über den Zugang, sondern nur über den Testosteronspiegel spricht, ohne zu wissen, ob es bei der betreffenden Person wirksam ist, ist das ein absolut fehlerhaftes Modell und es muss verschwinden“, fordert Mitra.
Der Sportphilosoph Schürmann verweist zudem auf die unterschiedliche Behandlung von anderen körperlichen Vorteilen. „Usain Bolt muss auch nicht zehn Meter mehr laufen, nur weil er so viel besser ist als andere. Manches, wie die Körperlänge beim Basketball, behandeln wir einfach als gegeben, als individuelle Unterschiede“, sagt er. „Warum machen wir das mit dem Testosteron nicht auch so, bis wir eine bessere Lösung haben?“
Annet Negesa lebt heute in Berlin und läuft wieder. „Ich mache meinem Körper gerne ein bisschen Druck“, sagt sie. Aber anders als früher. „Früher habe ich es genossen, meinem Körper immer mehr abzuringen. Heute merke ich: Er entwickelt sich nicht mehr.“ Sie spreche weiter über ihre Erfahrungen, damit anderen Sportlerinnen – insbesondere den afroamerikanischen – nicht das Gleiche passiert wie ihr. „Mein Leben ist okay“, sagt sie.
Payoshni Mitra, die sie und andere Sportlerinnen seit langer Zeit unterstützt, erzählt: „Was mich am meisten überrascht, ist die Unverwüstlichkeit. Sie sind nicht nur auf dem Feld außergewöhnlich, sondern sie sind auch außergewöhnlich belastbar. Annet leidet immer noch unter den irreversiblen Folgen ihrer Operation von 2012. Trotzdem macht sie weiter, spricht immer wieder darüber. Darin liegt viel Kraft.“
Hinweis: Dieser Text wurde aktualisiert und erstmals am 10.08.2024 veröffentlicht.
rnd