Der Boom der Fokus-Pillen: was ADHS-Medikamente leisten können – und was nicht


So viel Aufmerksamkeit für das Aufmerksamkeitsdefizit. Derzeit fällt es schwer, dem Thema ADHS aus dem Weg zu gehen. Es füllt Zeitschriftenartikel, Fernsehbeiträge und Podcasts – ganz zu schweigen von den vielen bunten Reels auf Instagram und Tiktok.
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Der Boom der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, wie sie ausgeschrieben heisst, macht sich auch in der klinischen Praxis bemerkbar. Die Diagnoserate kletterte in den letzten Jahren in die Höhe – und mit ihr der Absatz entsprechender Medikamente. 2016 wurden schweizweit knapp 10 Millionen Tagesdosen verschrieben. Sieben Jahre später hatte sich diese Zahl bereits mehr als verdoppelt, auf 21 Millionen. Seit Beginn der Pandemie hat die Nachfrage nach den Pillen besonders stark zugenommen. Das zeigen Daten des Schweizer Versorgungsatlas.
In Deutschland sieht die Lage ähnlich aus: Dort verschrieben Ärzte 2023 insgesamt über 100 Millionen Tagesdosen verschiedener ADHS-Medikamente – mehr als je zuvor.
Bei der ADHS denken viele zuerst an überdrehte Schulkinder. Zwar sind Buben zwischen 11 und 20 Jahren nach wie vor die wichtigste Patientengruppe. Doch auch Erwachsene bemühen sich immer häufiger um eine Behandlung, wenn sie echte oder vermeintliche Symptome einer ADHS wie Unaufmerksamkeit, Impulsivität oder Rastlosigkeit an sich feststellen. Insbesondere Frauen bekommen öfter eine ADHS diagnostiziert als früher, der Männerüberschuss wird kleiner.
ADHS: Modediagnose oder lange unterschätztes Leiden?Der Trend führt zu gegensätzlichen Reaktionen: Einige Experten sehen darin ein wachsendes öffentliches Bewusstsein für ein bislang unterschätztes Störungsbild. Aus dieser Warte sind die steigenden Verschreibungszahlen eine erfreuliche Entwicklung, erhalten doch immer mehr Betroffene die für sie passende Behandlung.
Kritiker betrachten den ADHS-Hype hingegen als Symptom der Leistungsgesellschaft – oder als Ergebnis gewiefter Werbekampagnen der Pharmaindustrie. Sie warnen davor, alltägliche Phänomene wie Zerstreutheit oder Unruhe zur Krankheit zu erklären und mit Pillen zu behandeln.
«Die steigenden Diagnosezahlen dürfen nicht dazu führen, dass man die Betroffenen weniger ernst nimmt», mahnt Swantje Matthies. Die Psychiaterin arbeitet für die ADHS-Sprechstunde am Universitätsklinikum Freiburg im Breisgau. «Zu uns kommen Menschen, die grosse Schwierigkeiten mit ihrer Lebensführung haben. Hier können die Medikamente tatsächlich gute Dienste leisten.»
Oft ist eine korrekte Diagnose die grosse HerausforderungManche halten die ADHS also für unterversorgt, andere hingegen für überversorgt. Sind zu viele Medikamente im Umlauf oder noch zu wenige? Und: Wie entscheidet sich, wer die Arzneimittel bekommt und wer nicht?
Womit man beim kniffligen Thema der Diagnose der ADHS ist. Dafür überhaupt einen Termin zu erhalten, ist angesichts des gegenwärtigen Ansturms schwierig. Wartelisten von einem Jahr sind keine Seltenheit. «Einige unserer Patientinnen und Patienten haben das Thema über Social Media entdeckt und erkennen sich selbst in den Symptomen wieder», sagt Antonia Wenger, die als Psychologin in einer ADHS-Spezialambulanz an den Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel arbeitet. «Doch auch Hausärzte und Therapeuten haben inzwischen ein Auge für die ADHS – und schicken Patienten mit einem entsprechenden Verdacht zu uns.»
Drei bis fünf Sitzungen braucht Wenger allein zur Diagnostik – weit mehr, als die meisten niedergelassenen Psychiater zur Verfügung haben. Falls sich der Verdacht bestätigt, steht am Ende eine ADHS-Diagnose. Die Patienten haben dann die Möglichkeit, eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen – oder es mit Tabletten zu versuchen.
Zu Beginn war Ritalin ein kleiner Helfer für den AlltagDas bekannteste ADHS-Medikament ist Methylphenidat. Es ist viel älter als die Diagnose selbst: Schon 1944 entdeckte es der Chemiker Leandro Panizzon in einem Labor in Basel. Er taufte es Ritalin, nach seiner Frau Rita, die es gern zum Tennisspiel einnahm. Es verstärkt die Wirkung der Hirnbotenstoffe Dopamin und Noradrenalin im synaptischen Spalt zwischen zwei Nervenzellen, indem es deren Rücktransport in die Zellen blockiert. Auf diesem Weg regt es den Organismus an, dämpft Müdigkeit und Appetit und soll die Konzentration verbessern.
Bis strengere Regeln griffen, war Ritalin zunächst frei verkäuflich. «Das ermuntert und belebt», verhiess eine Reklame, die es als Aufputschmittel für gesunde Menschen anpries. In den folgenden Jahrzehnten kam Ritalin für alle möglichen Zwecke zum Einsatz – etwa gegen Depressionen, Erschöpfung oder Übergewicht. Ab den 1980er Jahren mauserte es sich allmählich zum Goldstandard bei der ADHS.
Für die Behandlung zugelassen sind auch Präparate mit Amphetaminen, die prinzipiell ähnlich wirken. Daneben gibt es auch nicht stimulierende Arzneimittel wie Atomoxetin, welche Ärzte etwas seltener verschreiben.
Die Arzneien wirken – aber nicht immer im Sinne des PatientenIm Januar erschien im Medizinjournal «The Lancet» eine Metaanalyse, welche die Ergebnisse aus 113 kontrollierten Studien zusammentrug. Das Fazit: Methylphenidat und Amphetamin sind potente Hilfsmittel bei einer ADHS. Die beiden Stimulanzien waren effektiver als andere Behandlungsoptionen, etwa Psychotherapie oder sonstige Arzneistoffe.
Der Wermutstropfen: Es ist nicht belegt, dass die Mittel allein auch die Lebensqualität nachhaltig verbessern können. Die Patienten haben dank Ritalin und Co. zwar weniger Symptome. Sie gehen aber nicht automatisch zufriedener durch ihren Alltag.
Wie das zusammenpasst, ist nicht ganz klar. Eine mögliche Erklärung: Längst nicht alle Betroffenen leiden direkt an den Merkmalen, die als typisch für eine ADHS gelten. Einige mögen ihre hibbelige oder verträumte Art gar – oder finden zumindest Wege, sich mit dieser zu arrangieren.
Keine Wirkung ohne NebenwirkungHinzu kommen die Nebenwirkungen. Manche Betroffene berichten von Schlafproblemen, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, Übelkeit oder starkem Schwitzen. Ein weiteres Problem ist der sogenannte Rebound-Effekt: Wenn der Blutspiegel der Arznei nach einigen Stunden wieder absinkt, kommen die Symptome der ADHS oft plötzlich und umso störender zurück.
Dennoch: «Die Medikamente helfen dabei, länger fokussiert zu bleiben und sich nicht so schnell von äusseren Reizen ablenken zu lassen», meint Antonia Wenger. «Viele sind beeindruckt von der Wirkung und erzählen, es sei ein Unterschied wie Tag und Nacht.» Dabei schlucken nicht alle ihrer Patienten täglich Tabletten. Einige setzten ihr Medikament nur punktuell ein – etwa, um sich auf eine Prüfung vorzubereiten. In den Ferien verzichteten sie dann aber darauf.
Das wirft die Frage auf: Steckt hinter der wachsenden Nachfrage nach den ADHS-Arzneien auch ein Versuch, die gängigen Leistungsanforderungen auf chemischem Weg zu bewältigen? Schliesslich wird den Stimulanzien nachgesagt, dass sie das Denkvermögen beflügelten. Wer das Gefühl hat, im Studium oder im Job zu straucheln, kann leicht auf den Gedanken kommen: Vielleicht habe ich ja eine ADHS – und brauche Medikamente, um Schritt zu halten. So gerät leicht aus dem Blick, ob die Ansprüche an die eigene Produktivität überhaupt angemessen sind.
Die Grenze zum Hirndoping ist fliessendUnd auch Menschen ganz ohne Verdacht auf ADHS schielen nach den Pillen, weil sie sich davon erhoffen, so noch mehr aus sich herauszuholen. ADHS-Symptome sind nicht klar abgrenzbar, sondern bilden eher ein fliessendes Spektrum. Insofern ist auch die Trennung zwischen medikamentöser Therapie und «Hirndoping» ein Stück weit willkürlich.
In den gängigen Tests bestimmt ein Schwellenwert die Grenze zwischen Menschen mit und ohne ADHS – und somit auch zwischen jenen, denen Medikamente zustehen, und jenen, denen sie verwehrt bleiben. Bei diesem Wert handelt es sich jedoch eher um eine Konvention, eine klare wissenschaftliche Grundlage fehlt.
Und so wächst mit den steigenden Verschreibungszahlen auch ein «Graumarkt» heran. Manche Patienten geben ihre Pillen unter der Hand an Bekannte weiter. Auch im Darknet stehen die Mittel illegal zum Verkauf.
Menschen ohne ADHS profitieren kaum von den WirkstoffenDie Ironie dabei: Die vermeintlichen Leistungsbooster werden ihrem Ruf kaum gerecht. In einer australischen Studie aus dem Jahr 2023 sollten Probanden ohne ADHS knifflige mathematische Rätsel lösen, sogenannte Rucksackprobleme. Dafür sollten sie einen virtuellen Behälter mit möglichst wertvollen Gütern füllen, ohne eine bestimmte Gewichtsgrenze zu überschreiten. Ein Teil erhielt zuvor ein ADHS-Medikament, die übrigen ein Placebo.
Die «gedopten» Probanden waren eifriger zugange und tüftelten mehr herum. Das brachte ihnen jedoch keine Vorteile: Ihre zusätzlichen Spielzüge waren oft planlos, ihnen fehlte eine durchdachte Strategie. Sie hatten vielleicht das Gefühl, konzentrierter bei der Sache zu sein. Doch ihre Lösungen waren objektiv nicht besser als die aus der Placebogruppe.
Selbst für Menschen mit ärztlich bestätigter ADHS ist nicht erwiesen, dass die Mittel langfristig ihre akademischen Erfolge steigern. «Einige versprechen sich zu viel von den Medikamenten», meint Swantje Matthies. Als Beispiel nennt sie die Neigung, lästige Aufgaben lang vor sich herzuschieben, auch Prokrastination genannt. «Das ist ein gelerntes Verhalten, das nicht einfach verschwindet, indem man eine Tablette schluckt.» Letztlich können es einem die Medikamente nicht abnehmen, den eigenen Alltag sinnvoll zu gestalten – oder die Leistungserwartungen an sich selbst zu überdenken.
Bei vielen typischen ADHS-Baustellen kann deshalb eine begleitende Psychotherapie sinnvoll sein: Um die eigenen Gefühle zu regulieren, Stress besser zu bewältigen, Selbstwertprobleme anzugehen. Ob man sein Leben mit oder ohne die Pillen bestreiten will, ist letztlich eine persönliche Entscheidung. Sie sind keine Wunderwaffen – doch für manche liefern sie das bisschen mehr Konzentration, das ihnen sonst fehlt.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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