Abgetrennte Gliedmassen als Trophäen: Vor 6300 Jahren feierten Menschen den Sieg im Krieg durch die brutale Tötung und Verstümmelung Gefangener


Wer keine Gefangenen macht, tötet jeden Feind. Gefangene zu machen, bedeutet hingegen eine gewisse Milde. Die Gefangenen haben die Chance – nach internationaler Vereinbarung sogar das Recht – zu überleben.
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Die erste zwischenstaatliche Konvention zur guten Behandlung von Kriegsgefangenen unterzeichneten Preussen und die Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 1785; seit 1949 gibt es die Genfer Konvention, der fast alle Staaten der Welt beigetreten sind.
Vor 6300 Jahren war die Menschheit von Regeln für den Krieg noch weit entfernt. Was Archäologen an zwei Fundorten im Elsass dokumentiert und nun in der Zeitschrift «Science Advances» bekanntgemacht haben, zeigt: Auch wer damals die bewaffnete Auseinandersetzung zunächst überlebte, wurde brutal getötet, vielleicht sogar im Rahmen eines Siegesrituals. Gefangene machen hatte damals offensichtlich mit Milde nichts zu tun.
Gewaltsam getötet und achtlos in eine Grube geworfenIm Neolithikum, der Jungsteinzeit, zwischen 4500 und 3500 v. Chr., war es in grossen Teilen Mittel- und Westeuropas üblich, Tote in Siedlungen in kreisförmigen Gruben zu bestatten. Diese Gruben hatten zuvor vermutlich als Getreidesilos gedient. Auch an den fraglichen Orten im Elsass gibt es solche Gruben.
Achenheim liegt wenige Kilometer westlich von Strassburg, Bergheim etwa 50 Kilometer südlich davon. Beide Orte haben heute jeweils etwa 2000 Einwohner, ähneln sich sonst aber wenig. Was sie verbindet, ist das, was Archäologen dort in den neolithischen Gruben gefunden haben.
In Achenheim lagen in einer Grube sechs Tote, in Bergheim acht; es waren Männer, Frauen und Kinder, und sie waren nicht sorgfältig abgelegt, sondern achtlos hineingeworfen worden. Vor allem aber wiesen die Knochen Spuren perimortaler, das heisst um den Todeszeitpunkt herum entstandener Verletzungen auf. Erkennen können Spezialisten das daran, dass die Verletzungen an Schädel oder Knochen nicht verheilt sind. In vielen Fällen waren die Verletzungen die Todesursache.
In Bergheim waren bei einem Individuum besonders viele Verletzungen an den Knochen sichtbar, unter anderem an Schädel, Kiefer, Schulterblatt und Rippen. Die Hand fehlte. Die Archäologen sehen hierin einen Fall der Übertötung, also des Einsatzes von exzessiver Gewalt, die über das zur Tötung nötige Mass hinausgeht. In Achenheim fanden sich ebenfalls Beispiele für diese Praxis.
Ausserdem lagen in den Gruben überzählige Skelettteile, die zu keinem der Toten gehörten – und die gewaltsam von Körpern abgetrennt worden waren: vier beziehungsweise sieben menschliche Arme mit oder ohne Hand daran.
Kollektive Gewalt gab es im Neolithikum immer wiederDen Archäologen war klar, dass sie es wohl mit den Spuren gewaltsamer Auseinandersetzungen zu tun hatten. Sie passen in ein Muster. Für das Neolithikum haben Archäologen in den vergangenen Jahrzehnten kollektive Gewalt in vielen Formen dokumentiert. Meistens handelt es sich allem Anschein nach um Massaker ganzer Gemeinschaften, wobei die Skelette junger Frauen oft fehlen – wahrscheinlich, weil sie als lebende Beute entführt wurden. Auch Hinrichtungen junger Männer sind mitunter bezeugt.
Doch wer waren die Getöteten in den Gruben in Bergheim und Achenheim, und warum wurden sie auf diese Weise bestattet? Gehörten sie zu der Gemeinschaft, die hier lebte, oder kamen sie von ausserhalb?
An beiden Orten gibt es noch weitere Gruben aus der gleichen Zeit mit Toten darin; sie waren aber nach damaliger Tradition behandelt und mit Grabbeigaben deponiert worden. Sie dienten der Anthropologin Teresa Fernández-Crespo und ihren Kollegen nun als Vergleichsmaterial.
Isotope in den Knochen verraten viel über den LebenswegFernández-Crespo ist Spezialistin für archäologische Isotopenanalysen. Isotope sind Varianten chemischer Elemente; für die Archäologie relevant sind Kohlenstoff, Stickstoff, Schwefel, Sauerstoff und Strontium. Sie gelangen über Nahrung und Wasser in den Körper und lagern sich in den Knochen jedes Menschen ab. In bestimmten Gegenden enthält zum Beispiel das Wasser mehr eines bestimmten Strontium-Isotops als in anderen. Hat ein Mensch einen Teil seines Lebens in dieser Gegend verbracht, lässt sich das nach seinem Tod an seinen Zähnen ablesen.
Fernández-Crespo konnte feststellen, dass die Getöteten in der Grube und die Vergleichsgruppe Gemeinsamkeiten hatten: Als Babys wurden sie alle etwa sechs Monate lang ausschliesslich gestillt.
Doch es gab auch Unterschiede. In den Knochen der Getöteten in den Gruben fand sich eine grössere Menge eines bestimmten Stickstoffisotops. Das kann auf eine höhere Zufuhr von tierischem Protein hindeuten oder auf grösseren physiologischen Stress. Auf jeden Fall war das Leben dieser Menschen anders verlaufen als in der Vergleichsgruppe. Zudem waren sie in ihrer Kindheit mobiler gewesen, sie hatten den Wohnort mehrfach gewechselt.
Ritualisierte Gewalt könnte Teil einer Siegesfeier gewesen seinDas beweist nicht, dass sie als Eindringlinge oder Migranten in diese Gegend kamen. Das geben die Autoren zu. Alles zusammengenommen sehen sie trotzdem genug Hinweise für ihre Hypothese: Die Getöteten waren Zugewanderte, vielleicht aus dem Pariser Becken, die im nördlichen Teil des Mittelrheintals siedelten.
Das wahrscheinlichste Szenario, so schreiben die Wissenschafter, sei das folgende: Die Sieger hätten am Kampfort den getöteten Besiegten einzelne Gliedmassen, in diesem Fall Arme, abgetrennt und als Trophäen mitgenommen. Vielleicht wurden sie herumgezeigt und ausgestellt, bevor sie in den Gruben landeten. Die überlebenden Feinde seien gefangen genommen und erst dann getötet worden, vielleicht als Teil einer Art Siegesfeier.
Auf jeden Fall sprächen die Übertötung und die Art der Deponierung für eine Form von ritualisierter Gewalt. Sie scheint vor allem in stark hierarchisierten Gesellschaften verbreitet gewesen zu sein. Das war die neolithische Gesellschaft in Europa nach allem, was bekannt ist, nicht. Aber ritualisierte Gewalt tritt auch in Zeiten der Krise auf, und das könnte hier zutreffen. Zwischen etwa 4300 und 4165 v. Chr. verschwanden die bisherigen kulturellen Traditionen und wurden durch solche aus dem Pariser Becken ersetzt, vermutlich migrierten Gruppen von dort ins heutige Elsass. Gleichzeitig tauchen Verteidigungsanlagen und Knochen mit Spuren von Gewalt auf. Offenbar gab es zu dieser Zeit bewaffnete Konflikte, eine Art Eroberungskrieg.
In den Gruben von Achenheim und Bergheim spiegelt sich nach dieser Sichtweise eine Episode aus dem ersten Teil dieses Kriegs, als die Alteingesessenen siegreich waren. Langfristig unterlagen sie jedoch den aus dem Pariser Becken kommenden Gruppen. Ob diese ihrerseits Gefangene machten, haben die Archäologen noch nicht herausgefunden.
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