Wenig spricht vor der Heim-Euro für die Schweizer Fussballerinnen. Genau darin liegt ihre Chance

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Wenig spricht vor der Heim-Euro für die Schweizer Fussballerinnen. Genau darin liegt ihre Chance

Wenig spricht vor der Heim-Euro für die Schweizer Fussballerinnen. Genau darin liegt ihre Chance
Wird sie rechtzeitig fit oder fällt sie aus? Von Lia Wälti, der Captain, hängt vieles ab im Schweizer Nationalteam.

Die EM-Endrunde im eigenen Land, volle Stadien, Werbebotschaften in Endlosschlaufe, EM-Trams in den Städten, ein Riesenrad vor dem Bundeshaus in Bern, ein unübersehbares Begleitprogramm, Investitionen, jahrelange Vorbereitung mit sachte steigenden Zuschauerzahlen, Erwartungshaltung, Public Viewing, Sommerwetter – alles ist angerichtet.

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Und dann das:

Ramona Bachmann fällt aus. Sie erleidet einen Kreuzbandriss und spricht kurz vor dem Heimturnier über ihre psychischen Probleme in den vergangenen Monaten.

Ana-Maria Crnogorcevic nimmt während der EM-Vorbereitung zwecks Schonung entweder auf der Tribüne Platz – oder sitzt auf der Ersatzbank und greift im Verlauf der Spiele ins Geschehen ein.

Lia Wälti ist nicht auf hundert Prozent, trainiert mit Tapes und Bandagen an den Knien, lässt das letzte Testspiel gegen Tschechien (4:1) sausen, weil das Verletzungs- und Rückfallrisiko zu gross wäre. Wälti, auf dem Rasen und in der PR-Welle die Schweizer EM-Ikone, ist nicht voll bei Kräften.

Die drei erfahrenen Spielerinnen haben 449 Länderspiele

Bachmann, Crnogorcevic und Wälti sind über 30 Jahre alt, summieren 449 Länderspiele und kumulieren unschätzbare Erfahrung, von der es an Endrunden nicht zu viel geben kann. Bachmann und Crnogorcevic haben zusammen 134 Länderspiel-Tore erzielt.

Ein solches EM-Szenario hätte für die Verantwortlichen des Schweizerischen Fussballverbands (SFV) im Januar 2024 wie ein schwarzer Traum gewirkt, als sie Pia Sundhage als Nationaltrainerin vorstellten. Die erfahrene und turniererprobte Schwedin galt als ideale Wahl, nachdem es im WM-Jahr zuvor zwischen der Trainerin Inka Grings und dem Team zu heftigen Turbulenzen gekommen war. Es war Anfang 2024 und die Freude so gross, als sei gerade Ottmar Hitzfeld verpflichtet worden.

Der SFV sparte nicht und stellte ihr bestens bekannte Trainerassistenz aus Schweden (Lilie Persson, Anders Johansson) sowie einen grossen Namen aus dem deutschen Frauenfussball (die Goalietrainerin Nadine Angerer) zur Seite.

Der Plan des Verbands war: Sundhage wird die bösen Geister von 2023 vertreiben und das Team auf das Heimturnier hin in Schwung bringen. Die Routinierten werden nochmals zu Säulen, auch wenn dannzumal schon 34 Jahre alt. In deren Sog könnten vielversprechende Junge durchstarten.

Die Schweiz besiegt die EM-Konkurrenz nicht

Und dann das: Die Arrivierten können nur noch halbe Säulen sein. Wenn überhaupt. Während Monaten. Vor dem letzten Test und den vier Toren gegen Tschechien gewinnen die Schweizerinnen keines von acht Spielen, die Resultate werden nicht besser, sie erzielen fast keine Tore mehr. Sie gewinnen gegen die EM-Konkurrentinnen Norwegen (1:2, 0:1) und Island (0:0, 3:3) keinen Match und steigen in der Nations League ab.

Es gibt neben angeschlagenen Spielerinnen taktische Zweifel und die Goaliefrage (Livia Peng oder Elvira Herzog), die im Team verunsichert und in der Aussenwahrnehmung irritiert – unmittelbar vor einer Endrunde.

Als wäre der Unwägbarkeit noch nicht genug, muss sich zwei Tage vor dem Tag X Luana Bühler verletzungsbedingt zurückziehen. Das Knie schmerzt, es geht nicht. Ihr wird in der Defensive eine wichtige Rolle zugeschrieben, die sie nun nicht wahrnehmen kann. Fehlt eigentlich nur noch, dass auch Lia Wälti Forfait geben muss.

Dazu tauchen während der Trainingscamps plötzlich Stimmen auf, wonach die Intensität im Training zu hoch ist und bisweilen zu viel gefordert wird. Das waren schon Kritikpunkte an Inka Grings, die Vorgängerin von Sundhage. Wenn sich solche Dinge wiederholen, macht das hellhörig. Man macht sich Gedanken zu Charakteren, die womöglich die Tendenz haben, Fehler vor allem anderswo zu suchen. Es geht um die Mischung im Team und dessen Widerstandskraft, wenn der Wind ins Gesicht bläst.

Johan Djourou verbreitet gute Laune

Kurz: Skepsis greift um sich. Dieser versucht der frühere Fussballer Johan Djourou ein paar Tage vor dem Turnierstart in einem Video-Call entgegenzuwirken. Der Sportkoordinator des Frauen-Nationalteams, der die Heim-Euro 2008 als Ersatzspieler miterlebte, spricht von «Aufregung, positiver Energie, Begeisterung, Vertrauen und Intensität».

Aber auch Djourou kann die Resultate nicht wegwischen. Auch er hat Bedenken, muss solche haben, tut diese aber aus nachvollziehbaren Gründen nicht öffentlich kund. Man muss das Innenleben des Teams nicht kennen, um zu dem Schluss zu gelangen, dass viel an Lia Wälti hängt. Vielleicht zu viel. Unter 20-Jährige wie Iman Beney, Noemi Ivelj oder Sydney Schertenleib können ein Turnier bereichern, aber kaum retten.

Auf jeden Fall wird mit dieser Ausgangslage die Aussage Ramona Bachmanns relativiert, wonach die Schweiz noch nie ein besseres Frauen-Nationalteam gehabt habe. Die frühere Verbandsdirektorin Tatjana Haenni sagte dieser Tage gegenüber der «Republik», dass an der WM 2015 in Kanada die beste Generation am Werk gewesen sei, «die wir je hatten». Den Achtelfinal gegen Kanada (0:1) erreichten Bachmann, Lara Dickenmann, Martina Moser, Fabienne Humm (alle zwischen 25 und 30 Jahre alt) und die damals 20-jährige Noelle Maritz sowie Wälti (22) und Crnogorcevic (24).

Ein Jahrzehnt später scheinen die einen zu alt und die anderen zu jung zu sein.

Vielleicht ist die Schweiz an Hindernissen gewachsen

Vor einem solchen brüchigen Hintergrund gibt es nur eines: den Blick nach vorne richten. In der Schweizer EM-Expedition geht die Hoffnung vom Momentum um, vom Hindernis-Parcours, an dem man gewachsen sei, wie sich Djourou ausdrückt. Auch wenn die Frauen zuweilen gar nicht mehr wussten, wann sie letztmals Erfolg gehabt hatten und wie sie Tore schiessen sollen.

Das Momentum könnte aus einer Turnierdynamik heraus entstehen. Die Turnierblase als Treibhaus. Plötzlich «dreht der Wind», sagt Djourou, plötzlich «gewinnt man Selbstvertrauen», die Spielerinnen, das Trainerensemble, das Team – «und man kann es reproduzieren, mitnehmen». Wenn noch nicht im Startspiel gegen Norwegen, so doch spätestens gegen Island am Sonntag in Bern.

Die nicht eben optimistisch stimmenden Prämissen geben vor, woran sich die Schweizer Fussballerinnen halten können: Auch wenn sie nicht nur das Heimturnier bereichern, sondern gleich auch noch den (Schweizer) Frauenfussball mit Riesenschritten voranbringen sollen, haben sie wenig bis nichts mehr zu verlieren. Sie haben nicht neun Siege hinter sich, sie schweben nicht hochmütig auf einer Wolke der Unantastbarkeit, sondern blicken auf neun Spiele und einen Erfolg gegen einen mässigen Widersacher zurück.

Sie sind verletzlich. Resultatmässig, aber auch wegen physischer und psychischer Lasten, die sie mittragen. So etwas lehrt Demut. Und sie haben eine ruhige Trainerin, die wenig erschüttert und erfahrener an Endrunden fast nicht sein kann. Pia Sundhage steht nicht für panisches Verhalten. Sie weiss, wie es ist, vor so viel Publikum zu spielen. Einige Schweizerinnen kennen das Gefühl (noch) nicht. Zerbrechen – oder aufbrechen.

Vielleicht konstatiert man nach dem ersten oder spätestens nach dem zweiten Schweizer EM-Spiel Überraschendes, beginnend mit den Worten: «Und dann das.» Diesmal aber andersherum. Vom dunklen, negativ behafteten zum hellen, positiv besetzten Traum.

nzz.ch

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