Die Schmerzensfrau: Wie Lia Wälti das Nationalteam trägt – und manchmal fast zerbricht


Michael Buholzer / Keystone
Richtiges Weinen hätte nicht zu Lia Wälti gepasst. Aber ein bisschen feucht waren ihre Augen schon, als Beatrice Egli am letzten Mittwoch in Basel den Schweizerpsalm in den St.-Jakob-Park schmetterte. Immer wieder verharrte die Kamera vor dem EM-Startspiel der Schweizer Fussballerinnen auf dem Gesicht des Captains; im Kabinengang und danach bei der Hymne. Übergross erschien Wälti auf den Screens. So, als wachte sie in diesem dichten, emotionalen Moment über das Team und vielleicht auch ein bisschen über die Menschen im Stadion und draussen in den Stuben und Public Viewings des Landes.
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Im Gesicht von Wälti war zu lesen, was sie ausmacht: gefasste Entschlossenheit. Da stand eine, die sich bewusst ist, was von ihr verlangt wird, und bereit ist, die Verantwortung zu tragen. So gefordert wie an der Heim-EM war die Emmentalerin als Fussballerin wohl noch nie. Die Last der Erfahrenen drückt umso mehr, als mit Ramona Bachmann ein langjähriger Pfeiler des Teams ausfällt – und ihre Wegbegleiterin Ana-Maria Crnogorcevic keine Hauptrolle mehr spielt. Gegen Norwegen spielte Wälti mit zwei 18-Jährigen, einer 21- und einer 22-Jährigen, im Tor stand die 23-jährige Livia Peng. Nie hat das Team Wälti als umsichtige Chefin mehr gebraucht.
Wälti ist die geborene Anführerin, aber nicht auf die laute Art. Eine, der man in der Pfadi selbstverständlich die Gruppenführung überträgt, weil sie sieht, was gemacht werden muss, und anpackt. Mit 19 war sie Captain bei YB, mit 21 bei Turbine Potsdam in der Bundesliga. Der frühere Nationaltrainer Nils Nielsen nannte sie in einer seltsamen Wortkreation einen «Alphapuma». Selber sagt sie von sich, sie sei schon immer ein «Verantwortungsmensch» gewesen, die Art von Mensch also, die latent gefährdet ist, sich viel aufzuladen.
Offener Umgang mit psychischer KriseWie man andere dazu bringe, Verantwortung zu übernehmen, wurde Wälti kürzlich in einem Interview in der NZZ gefragt. Sie sagte: «Das ist nicht so einfach. Ich musste auch lernen, Verantwortung abzugeben.» Sie habe in gewissen Phasen, in denen viel an ihr gehangen habe, auch vieles an sich gerissen, um das sie sich nicht hätte kümmern müssen. Heute könne sie besser abgeben.
Und doch fragt man sich, ob sie in den emotional aufgeladenen Wochen vor der Heim-EM nicht zu viel geschultert hat. Wälti war überall: in einer Dokumentation von SRF, in Talks und Interviews. Sie trat dort nicht einfach als Fussballerin auf, die Phrasen drischt, ihre Anliegen sind grösser, als den Frauenfussball zu bewerben.
Seit einer Krise vor zwei Jahren, in der sie sich eine kurze Auszeit nehmen musste, spricht sie in Interviews von psychischer Gesundheit und darüber, wie wichtig ein offener Umgang damit ist. Wälti zeichnet auch Zurückhaltung aus, sie ist kontrolliert und trägt das Herz nicht auf der Zunge. Doch sie geht mit Persönlichem dort voran, wo es ihr wichtig erscheint.
Sie hat die EM unermüdlich promotet, ist einem auf Werbeplakaten und in aufwendigen Spots begegnet, in denen sie durch die Schweiz wandert und als EM-Botschafterin Tipps für Bern gibt. Daneben hat sie die Trainerlizenz gemacht, ihre Wohnung in London umgebaut und mit ihrer Schwester ein Kinderbuch herausgegeben. Ein paar Tage vor dem Startspiel hat sie die Prüfungen für ihr Fernstudium in Betriebsökonomie und Sportmanagement absolviert.
Georgios Kefalas / Keystone
Es ist verständlich, dass Wälti die Stunde nutzen will. Sie gehört zu jener Generation von Spielerinnen, für die nichts selbstverständlich war, die zeit ihrer Karriere um Sichtbarkeit gekämpft haben. Jetzt sind sie gross, nicht nur auf den Mammutscreens im Stadion. Auch in den hintersten Winkeln des Landes tragen die Mädchen Shirts mit ihrem Namen. Diese Aufmerksamkeit wollen die Spielerinnen nutzen. Wälti geht es dabei nicht nur um sich; wie auch mit ihrem Kinderbuch will sie den Nachfolgerinnen Mut machen und ihnen Strukturen hinterlassen, die langfristig tragen.
Wälti hat die Aktivitäten gestemmt in einer Zeit, in der es ihr körperlich nicht gutging. Vor ein paar Wochen sagte sie an einem Mediengespräch: «Ich habe lange überlegt, ob ich das sagen soll oder nicht, aber ich sage es nun einmal. Meine Gesundheit war nicht optimal im letzten halben Jahr. Mein Körper war nicht hundert Prozent fit in den letzten Monaten seit der OP.» Im vergangen November musste sie einen Abszess entfernen lassen. Mit ihrem Klub Arsenal gewann sie im Mai die Champions League, allerdings kam sie zuletzt nicht mehr regelmässig zum Einsatz.
In den Wochen vor der EM litt sie unter nicht näher definierten Beschwerden im linken Knie, ihr Einsatz gegen Norwegen (1:2) hatte bis kurz vor der Partie auf der Kippe gestanden. Sie trat mit einer Kniebandage an, in der zweiten Hälfte liess sie sich den Oberschenkel verbinden, kurz darauf wickelte sie den Verband auf dem Platz wieder ab. Immer stärker wurde das Gefühl, dass die 32-Jährige nicht nur einen Kampf gegen die Gegnerinnen ausfocht und darum, den Mitspielerinnen Sicherheit zu geben, sondern auch einen mit ihrem Körper.
Für Sundhage ist Wälti unentbehrlichBereits vor den letzten zwei Turnieren hatte Wälti gewankt. Vor der EM 2022 zog sie sich im Vorbereitungscamp eine Oberschenkelverletzung zu, 2023 kämpfte sie sich nach einer Knöchelverletzung an die WM, war aber nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte. Schon damals bangte das Land um ihren Einsatz. Ihre Mitspielerin Noelle Maritz sagt über Wälti: «Ich kenne niemanden, der härter arbeitet als sie. Wenn ich ins Gym gehe, ist sie immer da, sie hat alles dafür gemacht, dass sie spielen kann.»
Salvatore Di Nolfi / Keystone
Wird die Nationaltrainerin Pia Sundhage nach dem Spiel in Basel gefragt, was Wälti derart unentbehrlich macht, sagt sie: «Wo soll ich anfangen?» Oft sagen Coaches, jeder Spieler, jede Spielerin sei ersetzbar.
Bei Wälti unternimmt niemand den Versuch, andere starkzureden. Sundhage spricht dann nicht von Wältis Traumpass, der am Anfang des Führungstors der Schweiz steht. Sondern davon, dass Wälti das Team so viel besser mache. Nicht nur ist Wälti eigentlich immer anspielbar, als wäre sie ein sicherer Hafen überall auf dem Feld. Sie bestimmt Takt und Rhythmus, sie spürt den Raum und sieht nicht nur Bewegungen voraus, sondern reagiert auch klug auf sie.
Bis jetzt ist nicht klar, ob Wälti in der entscheidenden Partie gegen Island am Sonntag (21 Uhr) spielen kann. «Wir können nicht noch mehr Erfahrung verlieren», sagte sie vor dem Startspiel. Die Schweiz braucht sie.
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