Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard verbindet eine der grössten Rivalitäten im Weltsport – doch sie sind grundverschieden


Diese Rivalität gehört in die Kategorie von Duellen wie Roger Federer gegen Rafael Nadal; Muhammad Ali gegen George Foreman; Lionel Messi gegen Cristiano Ronaldo. Seit fünf Jahren heisst der Sieger der Tour de France entweder Tadej Pogacar oder Jonas Vingegaard. Seit 2021 belegten der Slowene und der Däne jeweils die Ränge eins und zwei. Das ist eine nie da gewesene Dominanz an der wichtigsten Radrundfahrt des Jahres.
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Dass der Sieger in drei Wochen wieder Pogacar oder Vingegaard heissen und der andere Rang zwei belegen wird, daran zweifelt kaum jemand. Zu dominant sind die beiden in letzter Zeit aufgetreten. Primoz Roglic, der zweifache Olympiasieger Remco Evenepoel oder der frühere Tour-Sieger Geraint Thomas haben allesamt Grands Tours gewonnen. An der Tour de France hatte aber keiner die Chance, das Duo ernsthaft zu fordern.
Vor der diesjährigen Rundfahrt tun beide kund, wie sehr sie ihren Antipoden respektierten; erklären, dass sie Energie aus dieser Rivalität zögen. Vingegaard, 28 Jahre alt, sagt am Tag vor dem Grand Départ: «Er hat mich zu einem besseren Velofahrer gemacht. Das Duell hat das Beste aus mir herausgekitzelt.» Der 26-jährige Pogacar gesteht, die letzten fünf Jahre seien intensiv gewesen: «Wir haben eine grossartige Rivalität. Ich freue mich darüber.» Mit den warmen Worten enden die Gemeinsamkeiten – die beiden sind grundverschieden.
Pogacar wirkt wie ein kleiner Bub, der sich auf den Geburtstag freutZwei Tage vor dem Tour-Start steht Pogacar auf dem Place Charles de Gaulle in der Altstadt von Lille. Er trägt an der Fahrerpräsentation einen gelben Hut und dürfte wissen, dass er damit albern aussieht. Er lacht, gibt sich unbekümmert, wie ein kleiner Bub, der sich auf den Geburtstag freut. Dann wirft er den Hut in die Menschenmenge, geniesst den Jubel und das Rampenlicht. Kurz vorher hat er gesagt: «Ich bin in Form und sehr zuversichtlich.»
Ganz anders verläuft der Auftritt Vingegaards. Mit versteinerte Miene bringt er die Paradefahrt hinter sich. Der Däne wirkt fokussiert, scheint die vielen tausend Zuschauer kaum wahrzunehmen. Vingegaard sagt: «Natürlich haben wir einen Plan, wie wir Pogacar besiegen wollen. Aber den verrate ich nicht.»
Der Däne gilt als zurückhaltend, wirkt manchmal sogar scheu. Er sagt, er habe sich an den Rummel der Tour de France gewöhnen müssen. «Am Anfang war es überwältigend, die Aufmerksamkeit ist doppelt so gross wie an anderen Rennen. Ich habe Zeit gebraucht, um den Umgang damit zu lernen.»
Vingegaard absolviert selten öffentliche Auftritte, lieber verbringt er Zeit mit seiner Familie. Im vergangenen Jahr stürzte er an der Baskenland-Rundfahrt schwer, zweifelte danach, ob er überhaupt zurückkehren würde. Auch, weil er zwei Kinder hat und sich fragte, ob ein weiterer Tour-Sieg das Risiko wert sei. Er sagt: «Es hat fast ein Jahr gedauert, bis ich wieder der Alte war, länger, als ich erwartet hatte.» Es sind Töne, die von Pogacar kaum je zu hören sein werden.
Vingegaard stürzte auch in diesem Frühjahr, im März, am Etappenrennen Paris–Nizza. Er bestritt danach während dreier Monate kein Rennen mehr. Das war nicht dem Sturz geschuldet. Die Wettkampftage zu begrenzen, war von Anfang an Teil des Plans. Vingegaard trainierte, während Pogacar sich an den Frühjahres-Classiques austobte.
Das zeigt, dass auch der Anspruch an die Karriere unterschiedlich ist. Pogacar will gewinnen, was es zu gewinnen gibt, will ein Vermächtnis schaffen. 2024 gelang ihm das schwierige Double von Giro und Tour de France, in Zürich wurde er erstmals Weltmeister. In diesem Jahr triumphierte er schon an der Flandern-Rundfahrt und bei Lüttich–Bastogne–Lüttich, versuchte sich erstmals bei Paris–Roubaix und wurde Zweiter. Pogacar hat Spass an Rennen, zieht daraus Motivation. Und er will so bedeutsam werden wie der grosse Eddy Merckx. Der gewann in den 1960er und 1970er Jahren die drei Grands Tours und die fünf Monumente je mindestens einmal.
Visma baut Rennhärte im Training aufVingegaard hingegen richtet sein ganzes Jahr auf die Tour de France aus. Die Regel, wonach ein Profi Vorbereitungsrennen braucht, verliert für ihn an Gültigkeit. Dafür spricht die vergangene Saison. Nach dem schweren Sturz im Baskenland reiste Vingegaard ohne Renneinsatz an die Tour. Dort verpasste er zwar den Gesamtsieg, hinterliess aber einen den Umständen entsprechend starken Eindruck.
Das liegt unter anderem daran, dass sein Team Visma – Lease a Bike die Formkurve der Fahrer mit wissenschaftlicher Präzision plant. Und es so schafft, Rennhärte auch im Training aufzubauen. Über die Methoden gibt die Equipe wenig preis; ehemalige Fahrer berichten, sie seien zu Beginn von der Datenflut und der Detailverliebtheit der Trainer überwältigt gewesen.
Vingegaard sagt, er sei etwas schwerer als letztes Jahr, das hänge damit zusammen, dass er an Muskelmasse zugelegt habe. Und der sportliche Leiter von Visma – Lease a Bike, Grischa Niermann, sagt: «Er ist so stark wie nie zuvor. Wir werden sehen, ob das gegen Pogacar reicht.»
Die meisten Experten beantworten diese Frage mit: Nein. Pogacar ist der grosse Favorit. Die Rolle zementierte er vor drei Wochen am Critérium du Dauphiné. An diesem Vorbereitungsrennen trafen er und Vingegaard erstmals seit der letzten Tour aufeinander; Pogacar gewann die Rundfahrt.
In der ersten Woche drohen viele StürzeEs wird an dieser Tour de France länger als in anderen Jahren dauern, bis die Fahrer die ersten hohen Berge überwinden. Nach dem Startprogramm gefragt, spricht Pogacar von «vielen Chancen», die sich ihm auf den hügeligen Etappen im Norden Frankreichs böten. Vingegaard sagt: «Wir werden versuchen, uns von Problemen fernzuhalten.»
Davor schützt ihn ein hochkarätiges Team. Im Aufgebot von Visma steht der gegenwärtige Giro-Sieger Simon Yates, dazu mit Matteo Jorgenson einer der besten Bergfahrer der Welt, mit Sepp Kuss ein weiterer Grand-Tour-Sieger, ausserdem Wout van Aert, Vingegaards Edelhelfer. Visma dürfte als Mannschaft wegen dieses Staraufgebots etwas besser sein als Pogacars Team UAE. Und der Equipe gelingen dank taktischen Meisterleistungen immer wieder Überraschungen, letztmals bei Yates’ Sieg am Giro.
Es ist kein Geheimnis, dass Vingegaard stärker von Helfern abhängig ist als Pogacar; sich wohlfühlt, wenn ihn die Domestiken beschützen, alles nach Plan verläuft. Pogacar hingegen ist ein Instinktfahrer, der auch Solofluchten und Angriffe zu ungewöhnlichen Zeitpunkten riskiert.
Das Etikett eines langweiligen Fahrers trägt Vingegaard trotzdem zu Unrecht. In der Vergangenheit sorgte er mit Angriffen im Hochgebirge für Furore, sicherte sich dort zwei Tour-Siege. Er attackierte Pogacar unter anderem am Mont Ventoux und am Col de la Loze – und hängte den Rivalen ab. Das nährt die Hoffnung auf eine Siegchance für Vingegaard an dieser Tour.
Denn diese beiden Berge stehen auch in diesem Jahr auf dem Programm – in der letzten Woche; dann, wenn die Tour entschieden wird.
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