Tour de France | Lipowitz' Tourpremiere: Vom Wasserträger zum Hoffnungsträger
Die Lust ist groß bei Florian Lipowitz. »Ich freue mich wahnsinnig auf die Tour«, sagte der gebürtige Schwabe vor dem Auftakt der Großen Schleife. Es ist nicht seine erste Grand Tour. Einen Giro d’Italia nahm er schon mal in Angriff, musste ihn aber bereits in der ersten Woche wegen Magenproblemen aufgeben. Die Vuelta a España im letzten Jahr lief besser. Da gelangte er als Helfer des slowenischen Gesamtsiegers Primož Roglič auf einen beachtlichen 7. Rang.
In diesen Dimensionen liegen auch vor der Tour die Erwartungen der Öffentlichkeit. Manche deutsche Medien sehen in dem 24-Jährigen schon einen neuen Jan Ullrich. Auch im Ausland erregt Lipowitz bereits Aufmerksamkeit. Nach seinem dritten Rang bei der Dauphiné-Rundfahrt Mitte Juni feierte ihn das französische Sportblatt »L’Équipe« als »den Deutschen mit dem großen Motor«.
Ganz folgerichtig im medialen Überbietungswettbewerb sah ihn die »Süddeutsche Zeitung« als »heimlichen Kapitän« seines Rennstalls Red Bull-Bora-hansgrohe bei dieser Tour. Die Münchner spielten da wohl auf das Szenario der Tour de France 2021 an. Damals schied Roglič als Topfavorit auf den Gesamtsieg nach mehreren Stürzen aus. Sein seinerzeit weithin unbekannter Stellvertreter Jonas Vingegaard beim Rennstall Jumbo-Visma wurde auf Anhieb Zweiter und gewann später zweimal die Tour. Zumindest ein Faktor, Stürze von Roglič, jetzt im Red-Bull-Dress, sind nicht unwahrscheinlich. Auch 2022 und 2024 fuhr der Slowene die Tour nicht zu Ende. Beim Giro d’Italia in diesem Frühjahr schied er ebenfalls aufgrund von Stürzen aus.
Das beunruhigt auch Teamchef Ralph Denk. Er konstatiert bei seinem Spitzenfahrer durchaus Defizite im Umgang mit dem Rad. »Er hat den Radrennsport ja nicht im Kindesalter ausgeübt. Er war Skispringer. Und ich glaube, dass man solche Dinge auch nicht mehr danach lernen kann«, meinte Denk in einer Medienrunde vor der Tour.
Bei Lipowitz, der ebenfalls vom Wintersport kam, sieht er diese Nachteile nicht ganz so groß: »Florian macht es nicht schlecht bis jetzt. Und ohne dass ich ein Experte in Biomechanik bin, kann ich das doch auch auf die dünnen Langlaufski schieben. Da geht es auch ganz schön bergab, und das hilft vielleicht mehr, als auf den breiten Sprungski zu stehen«, verglich er seine beiden Wintersport-Umsteiger.
Geht es bergauf, ist Lipowitz ohnehin auf ungefähr einer Höhe mit Roglič. Das deutete er bereits bei der Vuelta 2024 an, dem bisher einzigen gemeinsam bestrittenen Etappenrennen. Da wartete er zuweilen auf den Kapitän, um ihn nach kleinen Schwächemomenten wieder nach vorn zu bringen. Dass er Grand-Tour-Sieger auch abhängen kann, wenn ihm die sportlichen Leiter freie Fahrt geben, deutete Lipowitz bei der Dauphiné 2025 an. Dort distanzierte er den früheren belgischen Vuelta-Sieger und Zeitfahr-Olympiasieger Remco Evenepoel und kam auf Rang drei an, vor dem Belgier, geschlagen nur vom Toursieger-Duo Jonas Vingegaard (Dänemark) und Tadej Pogačar (Slowenien).
Es gibt nicht wenige, die ihm Ähnliches auch bei der Tour zutrauen. »Er ist superstark und hat echt große Chancen, da ganz vorne mitzufahren«, urteilte mit Emanuel Buchmann etwa der letzte deutsche Radprofi, der dem Tourpodium als Gesamtvierter zumindest einmal nahekam.
Bei Red Bull-Bora-hansgrohe tritt man aber auf die Bremse, was die hohen Erwartungen der Fans angeht. »Wir wollen behutsam mit dem Jungen vorgehen. Früher hat man mir ja vorgeworfen, mit Dominik Nerz etwas zu forsch gewesen zu sein. Das wollen wir jetzt definitiv anders machen«, spielte Denk auf die zu früh und aufgrund von Stürzen und Depressionen abgebrochene Karriere eines anderen deutschen Klettertalents in seinen Reihen an. Als ersten Vorsatz für Lipowitz gab er daher aus: »Das Ziel ist, dass er Paris erreicht.« Was unterwegs passiert, wie gut Lipowitz die nominelle Helferrolle ausfüllt, wie sehr er darüber hinauswächst, ist eine der ganz spannenden Fragen bei dieser Tour.
Lipowitz selbst traut übrigens seinem elf Jahre älteren und um 14 Grand Tours erfahreneren Teamkollegen auch eine ganze Menge zu. »So wie man Primož kennt, läuft meistens die zweite Grand Tour im Jahr besser als die erste. Deshalb pokere ich darauf, dass die Tour recht gut für uns verlaufen wird«, meinte er. »Für uns« wohlgemerkt, was einen ganzen Rennstall einschließt.
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