Diese Speaker-Pionierin legte noch Schallplatten auf und wimmelte eifersüchtige Ehefrauen ab


Als der Schweizerische Fussballverband (SFV) im Februar mitteilte, er suche für die Frauen-EM im eigenen Land Stadion-Speakerinnen, löste ein Hinweis Empörung aus: Den Bewerberinnen wurde klargemacht, dass sie «unentgeltliche Freiwilligenarbeit» leisten würden.
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Leute, die sich für Gleichberechtigung engagieren, begehrten auf. Damit werde ein längst überholtes Rollenbild zementiert, von mangelnder Wertschätzung war die Rede. Schliesslich erhalte jemand, der an einem Männer-Länderspiel diesen Job übernehme, eine finanzielle Entschädigung. Ein SRF-Podcast trug den Titel: «Werden Speakerinnen diskriminiert?»
Der SFV beschwichtigte, räumte Kommunikationsfehler ein, verteidigte sich aber. Der Verband komme für das Casting und die spezifische Ausbildung der fünfzehn Frauen auf, das sei auch etwas wert. Und er biete eine Perspektive. Die Beste käme künftig für den Speaker-Job an den Frauen-Länderspielen infrage, und dieser sei bezahlt. In den beiden Schweizer Profiligen der Männer hatten zuletzt der FC Luzern und der FC Schaffhausen eine Stadion-Speakerin.
Helena Schlegel kann über solche Debatten nur müde lächeln. Sie und ihre Schwester Monika waren ehrenamtlich als Stadion-Speakerinnen im Espenmoos-Stadion tätig, von 1976 bis 1994, als Pionierinnen in diesem Metier. Und für beide zusammen gab es als Lohn vom FC St. Gallen jeweils zwei Saisonkarten. Diese konnten sie nicht einmal für sich beanspruchen, sie standen ja an jedem Heimspiel im Einsatz. Also schenkten sie die Tickets ihren Eltern.
Die Schwestern traten nur im Doppelpack auf, sie waren wie Pech und Schwefel. Helena, die Haare lang und schwarz, machte die Durchsagen. Monika, die Haare kurz und hell, war ihre Informantin. Beide hatten im wenige Jahre zuvor gegründeten Damenfussballklub St. Gallen gespielt; Helena als Stürmerin, Monika als Libera. Ihre Speaker-Tätigkeit machte sie stadtweit bekannt.
Monika Schlegel ist unterdessen verstorben. Und Helena Schlegels grösstes Hobby sind heute zwei Amazonenpapageien – weshalb die ziemlich anspruchsvoll sind, dazu später mehr. Als sie zum Gespräch empfängt, bittet sie um Entschuldigung. Ihre Papageien seien etwas wild, wenn sie aus dem Käfig dürften. Deshalb hänge das eine Bild schräg. Und sie habe ein blaues Auge, der eine Vogel habe sie ins Gesicht gekniffen. Dieser sei übrigens ein echtes Sprachtalent, er frage immer: «Schatzeli, gömmer go schlöfele?» Eine viel bessere Lehrmeisterin als Helena Schlegel, die ihr Alter für sich behalten will, hätte er auch nicht haben können.
Als die Nationalmannschaft ohne Rückennummern spielteFür die Schlegel-Schwestern gab es in der engen Speaker-Kabine immer einiges zu tun – aber weder Internet noch Handys. Die Telefonate ins Stadion wurden von den Schlegels entgegengenommen, es konnten während eines Spiels mehr als hundert sein. «Es riefen Leute an, die den Spielstand wissen wollten. Oder eifersüchtige Ehefrauen, die fragten, wann endlich der Match zu Ende sei», erzählt Helena Schlegel.
So manches Mal musste sie einen Arzt ausrufen, der im Stadion sass und nun an einem anderen Ort gebraucht wurde. Oder sie teilte einem Mann mit, dass er Vater geworden sei und sich sofort auf den Weg ins Spital machen solle.
Damit der FC St. Gallen Geld verdienen konnte, sammelte und verlas sie Werbesprüche wie: «Goht s um Fleisch und Wurscht, isch bald entschide, das holt mä doch bim Schär, z Sankt Fide!» Oder sie moderierte das Pausenspiel für Firmen, in dem diese Penaltys auf einen Ersatzgoalie schiessen durften.
Blöde Sprüche, weil sie sich in einer Männerdomäne versuchte, bekam sie kaum zu hören. «Am Anfang sind alle aufgestanden, um zu schauen, weshalb eine Frauenstimme ertönt. Aber wir waren schnell akzeptiert.» Ein Fan habe ihnen einmal hundert Rosen geschenkt.
Ein anderer habe sie gefragt, weshalb sie nie einen Witz erzähle. Da erinnerte sich Schlegel an die Reporterlegende Karl Erb, dessen Speaker-Kurs sie besucht hatte. Er bleute ihr ein: «Ein Speaker ist kein Conférencier, sondern eine Informationsstelle.»
Die Geschwister Schlegel waren auch die Stadion-DJanes. Sie verteilten Zettel, mittels deren Zuschauer ihre Musikwünsche einreichen konnten. Damit besänftigten sie sogar pöbelnde Fans, wie Monika Schlegel 2022, kurz vor ihrem Tod, dem Magazin «Saint Gall» erzählte. Wenn Fanarbeit nur immer so einfach wäre . . .
Um alle Hits auf Lager zu haben, eigneten sich die Schlegels eine grosse Schallplattensammlung an. Häufig mussten sie «Rivers of Babylon» von Boney M. auflegen. Die Spieler des FC St. Gallen glaubten, dieser Song bringe ihnen Glück.
Ihren Dienst verrichteten die Schlegels auch, wenn die Schweizer Nationalmannschaft in St. Gallen antrat. Die grösste Sorge der Verbandsoberen war, die Schwestern könnten beim Abspielen der Nationalhymnen eine falsche Rille auf der Schallplatte erwischen, womit ein falsches Lied ertönt wäre. Also gingen die Frauen in den Plattenladen und baten den Inhaber, jene beiden Hymnen, die sie brauchten, auf Kassette aufzunehmen, damit sie diese abspielen konnten.
Die Nationalmannschaft war es auch, die den Schwestern die schwierigste Aufgabe bescherte. 1997 gastierte sie vor einem WM-Qualifikationsspiel bei den Amateuren des FC Goldach – und trat unter dem Trainer Rolf Fringer ohne Rückennummern an, wohl in der Hoffnung, den kommenden Gegnern damit weniger Aufschlüsse zu geben. Die Schlegels, die weit weg vom Geschehen sassen, konnten kaum erkennen, wer die Tore schoss. Was schwer wog, zumal die Schweiz 10:0 gewann. Monika zog jeweils los, um irgendwo die Torschützen in Erfahrung zu bringen.
Wenn sich für den FC St. Gallen Gegner aus dem Ausland ankündigten, brachte sich Helena Schlegel Kenntnisse in deren Landessprache bei. Um sich auf ein Team aus Kiew vorzubereiten, schaute sie sich einen Sprachkurs im Fernsehen an. Und füllte ihre Kreuzworträtsel mit kyrillischen Buchstaben aus.
Sie «speakerte» auch bei Nachwuchsspielen. Und amüsierte sich, wenn südamerikanische Profis der 1. Mannschaft auf der Pressetribüne des Espenmoos erschienen. Diese wollten nicht primär ihrem Jugendteam zuschauen, sondern ihren Familien in die Heimat telefonieren. Taten sie das von der Pressetribüne aus, bezahlte der Verein die Rechnung.
Der schlimmste Versprecher? «Wir blödelten herum, und prompt sagte ich kurz darauf Fürchtentum statt Fürstentum Liechtenstein.» Zu einer diplomatischen Krise mit dem kleinen Nachbarland kam es aber nicht.
Die Speaker-Ära der Schlegels im FC St. Gallen endete unversöhnlich. Es kamen neue Leute in den Verein, und die Schwestern hätten Aufgaben abtreten sollen. Geblieben wäre ihnen das Verlesen der Werbesprüche. «Aber nur noch die Werbetanten geben, das wollten wir nicht», sagt Helena Schlegel. Die familiäre Stimmung im Klub sei etwas verlorengegangen, auf einen Blumenstrauss zum Abschied verzichteten sie. Doch alle Matchprogramme von früher haben sie aufbewahrt.
Die Schlegels widmeten sich fortan ihrem Brillengeschäft – und entdeckten die Liebe zum grossen Fussball. Als sie einmal in Barcelona weilten, fand gerade ein «Clásico» zwischen Barça und Real Madrid statt. Auf gut Glück fragten sie im Hotel, ob es noch Tickets gebe. Und bekamen zur Antwort: Für ihre Gäste seien immer Karten reserviert, wenn Barça spiele. Und so verbrachten sie ihre Ferien fortan häufig in diesem Hotel.
Helena Schlegel trägt eine Uhr des FC Barcelona. Und schaut sich jeden Match des Klubs im Fernsehen an, mit ihrem 18-jährigen Nachbarn. Nach Barcelona schaffe sie es leider kaum mehr. «Die Papageien!», sagt sie. «Ich kann sie nicht mehr allein lassen.»
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