Deutschland gegen Schweden: Zeit, zu glänzen


Es lief die 77. Spielminute im EM-Gruppenspiel Polen gegen Schweden: Linksverteidigerin Jonna Andersson holte an der Eckfahne noch einmal tief Luft, hob den Arm und flankte den Ball hoch in den Fünf-Meter-Raum. Dort stieg Lina Hurtig im genau richtigen Moment in die Luft und köpfte den Ball zum 3:0-Endstand ins Tor. Und durch genau diesen Kopfball, durch genau dieses Tor stehen die Schwedinnen vor dem Aufeinandertreffen mit Deutschland mit ebenfalls sechs Punkten, aber der um einen Treffer besseren Tordifferenz auf dem ersten Platz der Gruppe C – das bedeutet für die DFB-Elf: Für den Gruppensieg müssten drei Punkte her, ein Unentschieden reicht nicht.
Und, was vielleicht noch wichtiger ist als die tabellarische Situation: Anders als Favoritinnen aus Frankreich oder Spanien konnte das deutsche Team von Christian Wück bislang spielerisch nur mäßig glänzen. Gegen Dänemark sicherten sich die Spielerinnen einen Arbeitssieg, gegen Polen kam die Erlösung erst spät (und nur durch ein Traumtor von Jule Brand). Auch die anstehenden Gegnerinnen aus Schweden überzeugten bislang mehr. Bedeutet: Ein Sieg gegen sie hätte nicht nur tabellarische Konsequenzen, sondern auch Signalwirkung.
Damit das gelingt, muss die deutsche Verteidigung zwingend über die Lufthoheit im eigenen Strafraum verfügen. Andernfalls drohen Gegentreffer: Gegen Polen erzielten die Skandinavierinnen alle drei Tore nach Flanken ins Zentrum mit anschließender Vollendung per Kopf. Der dritte Treffer fiel nach einem Eckball und zeigte erneut, dass die Schwedinnen immer für ein Tor nach Standards gut sind. Flanken und Knipsen können sie jedoch auch aus dem Spiel heraus – das stellten sie mit den ersten beiden Treffern unter Beweis. „Wir wissen, dass sie sehr physisch sind“, machte Innenverteidigerin Rebecca Knaak auf der DFB-Pressekonferenz eine weitere Stärke der Schwedinnen aus.
Auch eine Reihe weiter vorn – im Mittelfeld – muss sich die Nationalelf im Zentrum steigern. Bundestrainer Christian Wück lobte Elisa Senß und Sjoeke Nüsken doch mahnte auch: „Ich finde, dass sie in der ersten Hälfte immer noch ein paar Zehntelsekunden zu lange für Entscheidungen gebraucht haben. Wenn sie da zweifeln oder sich zu spät entscheiden, dann verlieren sie Zweikämpfe.“ Nüsken übernahm beim Strafstoß gegen Dänemark Verantwortung und traf zum 1:1-Ausgleich, doch zuvor hatte sie sich immer wieder Fehlpässe geleistet – auch in direkten Duellen um den Ball war noch Luft nach oben. „Wir müssen an unserer Passgenauigkeit feilen“, befand ihre Kollegin im zentralen Mittelfeld, Elisa Senß, am Donnerstag gegenüber der Sportschau selbstkritisch.
Senß überzeugte gegen Dänemark besonders mit ihrer robusten Zweikampfführung und vermied gleichzeitig eine gelbe Karte. Auf der DFB-Pressekonferenz am selben Tag wurde sie gefragt, ob sie Glück gehabt habe, gegen Polen der Verwarnung entgangen zu sein. „Ich würde sagen, dass mein Spiel immer darauf ausgelegt ist, sehr aggressiv zu spielen“, entgegnete sie und schob hinterher: „Aber es ist auch voll okay, gegen so einen Gegner eine gelbe Karte zu bekommen.“ Diese Herangehensweise passt auch zum Rollenverständnis von Senß: „Ich muss sagen, dass Sjoeke (Nüsken, d. Red.) auf jeden Fall eher auf der Acht agiert, ich eher auf der Sechs.“ Die Aufgabenverteilung scheint also klar: Sie ist die Abräumerin und ihre Kollegin Nüsken für die Akzente in der Offensive zuständig.
Mut macht die Bilanz der DFB-Frauen gegen die schwedische Auswahl. In bisher 31 Partien gingen die Deutschen insgesamt 21 Mal als Siegerinnen vom Platz, die Schwedinnen achtmal und zweimal trennten sich beide Teams mit einem Unentschieden. Die Bilanz bei Europameisterschaften ist noch positiver für die DFB-Elf: Fünf Mal gewann sie, 2017 gab es ein Remis in der Gruppenphase – damals reichte das noch für den Gruppensieg.
Ein weiterer Mutmacher für die deutsche Elf ist eine alte Angewohnheit des schwedischen Nationaltrainers Peter Gerhardsson. Denn der rotiert nach vorzeitigem Einzug in die K.-o.-Phase gern mal. So machte er es schon bei der WM 2019 am dritten Gruppenspieltag gegen die USA. Ganze sieben Stammspielerinnen schonte er und sein Team unterlag den US-Amerikanerinnen mit 0:2. Davon unbeirrt wiederholte er sein Wechselspiel sowohl bei den Olympischen Spielen 2021 als auch bei der WM 2023 am letzten Gruppenspieltag. Auf eine von der Rotation geschwächte schwedische Nationalelf sollten sich die Deutschen jedoch nicht verlassen, denn 2021 und 2023 gewannen die Schwedinnen trotz der umgestellten Startelf. Am Ende wird sich die DFB-Elf für den Gruppensieg steigern müssen. Immerhin: Die kritische Einordnung von Bundestrainer und Spielerinnen macht Mut.
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