Peter Gabriel, der Engel am Stadtrand

«The Lamb Lies Down on Broadway», das kühne Doppelalbum von Genesis mit Peter Gabriel als Sänger, erscheint zum 50. Geburtstag in einem exzellenten neuen Mastering. Erinnerungen an das erste Rockkonzert.
Jean-Martin Büttner

Jorgen Angel / Redferns / Getty
Wer stand damals auf Genesis? Das Geständnis fällt nicht leicht. Wer will schon zugeben, in den siebziger Jahren Fan der sogenannten Gymi-Musik gewesen zu sein? Heute sagt man dem Prog-Rock – ein Genre wie ein Schimpfwort.
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Es bezeichnet eine der Klassik entlehnte, oft dünkelhafte Musik: lange Suiten, mit römischen Zahlen nummeriert, mythologisch beschwerte Texte, gereimtes Pathos über Fabelwesen. Dazu Rhythmuswechsel und changierende Tonarten, ohne den Swing des Jazz, dafür virtuose Soli auf dem Moog-Synthesizer. Prog-Rock war eine Musik für Leute, die Angst davor hatten, sich der direkten Wirkung des Rocks zu überlassen.
In jenen fernen 1970er Jahren verehrte man vor allem auch die britische Gruppe Genesis. Allerdings wurde sie noch nicht vom Schlagzeuger und späteren Sänger Phil Collins mit immer grösserem Erfolg in die Belanglosigkeit geführt. Sondern man schwärmte für die exzentrischen Jahre der Band mit Peter Gabriel. Das war der Sänger mit der Querflöte, der Basspauke und dem Tamburin. Der mit der Fuchsmaske und der Greisenmaske, der zuweilen als Madam Britannia gekleidet war.
Auch Peter Gabriel und seine Bandkollegen Mike Rutherford und Tony Banks waren ins Gymnasium gegangen, in ihrem Fall in eine Privatschule nahe der Kleinstadt Bath. Sie wuchsen als Kinder der Mittelklasse im Stockbroker Belt privilegiert auf, dem Ring von Börsenhändlern um London. Nur der Gitarrist Steve Hackett und Phil Collins stammten aus einfacheren Verhältnissen. Als man Peter Gabriel später auf den Hass ansprach, der ihm oft aus der britischen Musikpresse entgegenschlug, erklärte er dies durch seine bürgerliche Herkunft: «Ich besuchte dazu noch eine Privatschule, was die Vorurteile gegen mich verstärkte.»

Jorgen Angel / Redferns / Getty
Am 29. März 1975 trat Peter Gabriel mit Genesis in der Festhalle Bern am Stadtrand auf. Es war ein warmer Frühlingsabend, an dem die Band ihr im November zuvor erschienenes Doppelalbum «The Lamb Lies Down on Broadway» aufführte.
Es sollte sich um die letzte Genesis-Tournee mit Peter Gabriel handeln. Aber das wusste man damals nicht als 15-Jähriger. Man wusste auch nichts von den Schwierigkeiten, welche die Aufnahmen des Albums belastet hatten. Die Band musste die Musik ohne ihren Sänger aufnehmen, der seiner Frau beistehen und der schwierigen Geburt ihres ersten Kindes beiwohnen wollte. Umgekehrt bestand Gabriel darauf, alle Texte selber zu schreiben. «The Lamb Lies Down on Broadway» war also unter grossen persönlichen Spannungen entstanden.
Das Album klang aufregend, weil sich die fünf Briten erstmals von der amerikanischen Kultur hatten inspirieren lassen. Ihr Album davor hatte «Selling England by the Pound» (1973) geheissen und klang auf britische Weise versponnen. Ihre früheren Platten feierten musikalische Brillanz, Exzentrik, aber auch britischen Humor – auf eine Weise, wie das keine andere Prog-Rock-Gruppe tat. Denn Yes, Audience, Renaissance, Pink Floyd, Supertramp, Jethro Tull, Gentle Giant, King Crimson sowie Emerson, Lake & Palmer und alle anderen nahmen sich viel zu ernst. Was nicht heisst, dass sie schlechte Musik machten.

Gijsbert Hanekroot / Redferns / Getty
Das «Lamb»-Album rockte nun wie keines zuvor. Die fünf Engländer sehnten sich nach Amerika. Peter Gabriel spielte auf der Bühne den puerto-ricanischen Strassenjungen Rael, der eine psychische Individuation durchmacht und sich am Ende in seinem Bruder John als Spiegelbild seiner selbst erkennt. So gesehen blieb immerhin das Konzept von «The Lamb Lies Down on Broadway» ziemlich europäisch.
Das Konzert in Bern hatte etwas sehr Sakrales, es blieb einem als religiöse Erfahrung in Erinnerung. Der Engel Gabriel war niedergestiegen zu seinem Publikum. Und seine Band operierte mit bunten Kostümen, mit Tausenden Diapositiven und einer Lichtshow, die futuristisch und impressionistisch zugleich aussah. So etwas hatte man zuvor noch nie erlebt. Die Wucht der Musik, Gabriels Auftritt, die sinfonischen Dichtungen von Genesis, die Lautstärke, das Licht – all das wirkte überwältigend.
In der Folge geriet diese Art von Musik jedoch unter den Dauerverdacht der Künstlichkeit. Und als in New York und in London der Punk aufkam, wurde Prog-Rock als eine Art Konterrevolution zum wahren Rock’n’Roll verhöhnt. In London lief ein junger Typ mit rotem Haar und einem T-Shirt herum, das für Pink Floyd warb, darüber hatte er die Worte «I hate» geschrieben. Der Junge hiess John Lydon; später nannte er sich Johnny Rotten und sang für die Sex Pistols.
Für die radikalen und sarkastischen Dilettanten des Punk, denen drei energische Akkorde oft genügten, stand alles Komplexe unter Verdacht des Falschen, Heuchlerischen. Gruppen wie Genesis, Yes oder Emerson, Lake & Palmer waren für die Punks Inbegriff dessen, wogegen die Rockkultur aufbegehrte. Wahrscheinlich hatten sie recht. Aber zur Freiheit dieser Musik gehört es doch auch, dem Mythos des Authentischen, den die Simplizität birgt, künstlerisch zu widersprechen.

Michael Putland / Hulton / Getty
Zum 50. Geburtstag – wenn auch etwas verspätet – ist «The Lamb Lies Down on Broadway» in einem neuen Mastering erschienen, zusammen mit einer mitreissenden Live-Version des Albumprogramms aus Los Angeles und ausführlichen, reich bebilderten Liner-Notes des «Guardian»-Musikjournalisten Alexis Petridis.
Die Befürchtung, einer hoffnungslos veralteten Musik zu begegnen, bestätigt sich nicht, im Gegenteil: Das neue Mastering bringt Mike Rutherfords Bass zum Klingen und konturiert das Ensemblespiel des virtuosen Quintetts. Auch Peter Gabriels Gesang hebt sich im neuen Mix viel deutlicher von den Instrumenten ab, als man es in Erinnerung hatte.
Die neue Version lässt das Album um einiges moderner klingen. Tony Banks’ Läufe auf dem Moog-Synthesizer mögen stören. Am meisten überrascht dafür die Qualität der Songs – ihre dramatische Kraft, ihre Dynamik, die kühnen Arrangements, die melodische Vielfalt.
Da sind so berückende Balladen wie «The Carpet Crawlers», «Lilywhite Lilith» oder «The Lamia», aber auch hart rockende Songs wie «Fly on a Windshield», «Back in N. Y. C.» und «In the Cage». Das Album löste bei Erscheinen gemischte Reaktionen aus. Heute aber wird es sowohl von Kritikern wie auch von Musikern als Meisterwerk des Prog-Rock gefeiert. Zumal man erkennt, dass Musiker wie der virtuose, hochbegabte Steven Wilson und Bands wie Radiohead oder The Mars Volta auf ihre Weise Elemente des Prog-Rock aufgegriffen haben, um das Genre weiterzuentwickeln.
Dass Peter Gabriel seinen Kollegen während der «Lamb»-Tour ankündigte, Genesis zu verlassen und eine Solokarriere anzutreten, quittierten seine Mitmusiker übrigens nicht mit Ärger, sondern mit Erleichterung. Sie hatten verständlicherweise genug davon, zu Begleitern ihres Starsängers degradiert zu werden, obwohl das Quintett seine sechs Platten gemeinsam komponiert, arrangiert und aufgenommen hatte. Dass die Trennung allen zugutekam, zeigte später der Erfolg aller Beteiligten: Genesis ohne Gabriel – mit Phil Collins als Sänger – spielte sich zu einer Stadionband hoch. Und Peter Gabriel bleibt als Solist bis heute erfolgreich.
Genesis: The Lamb Lies Down on Broadway. 4 CD und 1 Blu-Ray, reich bebildert und annotiert (Atlantic).
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