INTERVIEW - Aladin El-Mafaalani zum Vertrauensverlust in der Gesellschaft: «Der Staat zieht immer mehr an sich – und enttäuscht dann zunehmend»

Der Soziologe sieht im wachsenden Misstrauen eine Gefahr für die Demokratie. Im Gespräch sagt er, was zu tun sei und weshalb er das Schweizer Modell der direkten Demokratie nicht als Lösung für Deutschland sieht.

Er gehört zu den einflussreichsten Soziologen Deutschlands. Aladin El-Mafaalani, Professor für Migrations- und Bildungssoziologie an der Technischen Universität Dortmund, hat mehrere Bestseller geschrieben. Dank seiner Präsenz in reichweitenstarken Podcasts und in Fernseh-Talkshows ist er auch bei einem jungen Publikum populär. Nun hat er ein Buch zum wachsenden Misstrauen in unserer Gesellschaft veröffentlicht.
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Herr El-Mafaalani, Misstrauen ist eine zentrale Errungenschaft der Aufklärung – ohne ein gesundes Misstrauen gegenüber Autoritäten und Dogmen keine demokratische Gesellschaft. Sie stellen das Misstrauen als eine Gefahr für die Demokratie dar. Weshalb?
Beides, Vertrauen und Misstrauen, ist für die Demokratie elementar. Vertrauen ermöglicht viele Synergieeffekte, es reduziert Kosten, Aufwand und Zeit, da man nicht mehr alles absichern muss. Das Misstrauen wiederum schützt uns. Wenn wir unsere Gesellschaft als Organismus verstehen, so ist das Vertrauen der Muskel, das Misstrauen das Immunsystem. Wenn nun das Misstrauen überhandnimmt, besteht die Gefahr einer Autoimmunerkrankung: Das Misstrauen greift sozusagen das an, was es in einer funktionierenden Form eigentlich schützen soll.
Ihre These lautet, wir seien nahe dran an dieser Autoimmunkrankheit, das Misstrauen habe stark zugenommen.
Kritik gegenüber bestimmten Institutionen und Prozessen ist notwendig, doch die Welt ist so komplex geworden, dass Kontrolle nebenbei gar nicht machbar ist. Deshalb wurde das Misstrauen in den letzten Jahrhunderten zunehmend an professionelle Bereiche übertragen: an den Journalismus, ans Justizsystem oder an uns Wissenschafter; auch wir müssen uns Mühe geben, die selbstverständlichsten Zusammenhänge kritisch zu hinterfragen. Diese misstrauischen Berufe sind selbst auf Vertrauen angewiesen, doch dieses geht zunehmend verloren.
Das klingt ziemlich elitär: Das von der Komplexität überforderte Volk soll einfach den Experten glauben. Dabei weiss man aus der Geschichte, dass die Wissenschaft und der Journalismus mindestens so anfällig sind für Fehleinschätzungen, Ideologien und Herdenverhalten wie andere Berufsfelder.
Das sehe ich genauso. Es gibt gute Gründe für das wachsende Misstrauen. Dass die Expertensysteme stark verbesserungswürdig sind, konnte man während der Pandemie oder zuvor während der Finanzkrise sehen. Weil sich die etablierten Medien gegenseitig kaum kritisieren und oft eine ähnliche Haltung vertreten, springen alternative Medien ein, allerdings ohne sich an journalistische Standards zu halten. Wir haben global eine immer höhere Komplexität, und weil immer mehr Menschen die abstrusesten Deutungen verbreiten können, verstärkt sich das Problem. Um es kurz zu fassen: Das Misstrauen hat gute Gründe. Die Reaktion darauf ist aber in weiten Teilen destruktiv, etwa Verschwörungsideologien und Populismus.
Ist das Misstrauen überhaupt gewachsen? In vergangenen Zeiten nahmen Aberglauben und Verschwörungstheorien doch einen grösseren Platz ein als heute.
Das ist schwer zu sagen. Was sich aber sicher verändert hat, ist die Qualität des Misstrauens. Die misstrauischen Menschen können sich dank der Digitalisierung vernetzen, sich treffen. Sie können eine eigene Infrastruktur erstellen, eigene Medien herausgeben. Das war früher nicht in der Form möglich. All das, was ich im Buch beschreibe – von Populismus über Verschwörungsideologien bis hin zu Alternativmedizin –, sind alte Phänomene, die sich jetzt kanalisieren, verbinden und dadurch an Wirkmacht gewinnen. Dies setzt die professionellen Systeme zunehmend unter Druck.
Als Symptom des Misstrauens nennen Sie verschiedene «Alternativen»: Die Alternative für Deutschland (AfD), alternative Medizin, alternative Fakten. Heute gilt «alternativ» als rechts und böse, noch vor dreissig Jahren war dieser Begriff links konnotiert und galt als progressiv. Was hat sich verändert?
Eine interessante Frage: Was wäre wohl passiert, wenn damals die linken Alternativen schon die Möglichkeit gehabt hätten, über digitale Kanäle Parallelstrukturen zu entwickeln? Wäre dann das Gleiche von links passiert wie heute von rechts? Was klar ist: Misstrauen und die Anfälligkeit für Populismus und Verschwörungsideologien können genauso von links wie von rechts kommen. Empirische Studien zeigen, dass dies verstärkt an den Rändern passiert. Ich bezweifle, dass diese Einteilung in links und rechts bei diesem Phänomen überhaupt sinnvoll ist.
Alternativ bedeutet doch einfach, dass man sich abseits der vorherrschenden Weltanschauung bewegt. Vor fünfzig Jahren war die vorherrschende Haltung eher konservativ, deshalb war die Alternative links. In den letzten Jahren war das tendenziell umgekehrt.
Einen Teil des Phänomens kann man tatsächlich so verstehen. Die Forschung zeigt, dass Menschen, die eher zu Vertrauensverlust neigen und anfällig sind für Verschwörungserzählungen und Populismus, eine starke Gemeinsamkeit haben: Sie sehen ihre Identität bedroht. Sie glauben, ihre Vorstellung vom guten Leben werde in Zweifel gezogen und ihr Weltbild abgewertet. Es geht auch um so etwas wie Entfremdung, also das Gefühl, dass sich vieles zu schnell und zu weitreichend verändert. Im Hinblick auf Deutschland kann gezeigt werden, dass wahrgenommene Entfremdung und Identitätsbedrohung einen stärkeren Effekt haben als soziale Ungleichheit. All das begünstigt die Erosion von Vertrauen.
In keinem anderen Land ist das Vertrauen in den Staat so hoch wie in der Schweiz. Das liegt vor allem an der direkten Demokratie: Die Leute können mitbestimmen, man vertraut ihnen. In Ihrem Buch relativieren Sie die Bedeutung der Mitbestimmung.
Bürgerräte und andere kommunikative Formate finde ich sinnvoll, das steht auch in meinem Buch. Das macht die Menschen aber nicht zufriedener, da kaum bessere Resultate rauskommen. Das hat man zum Beispiel beim Brexit gesehen. Der Leitspruch war: «Take back control», also: Wir haben kein Vertrauen mehr, deshalb wollen wir die Kontrolle zurück. Heute ist man in Grossbritannien sehr unzufrieden mit dem Resultat. Trotzdem bin ich für Formate wie Bürgerräte – als Frühwarnsystem, damit man abseits von Umfragen wahrnimmt, wie die Stimmungslage ist.

Als Schweizer kann ich diese Haltung nicht nachvollziehen. Selbst wenn sich ein Volksentscheid als unvorteilhaft erweist, so ist die Akzeptanz dennoch viel grösser, als wenn man etwas von einem weit entfernten Gremium aus Brüssel oder Strassburg aufgedrückt bekommt.
Die Schweiz hat eine sehr lange direktdemokratische Tradition. Inwiefern man das auf andere Länder übertragen kann, weiss ich nicht. Aus meiner deutschen Perspektive bin ich der Ansicht, dass bezogen auf Vertrauen und Misstrauen die Bürgerbeteiligung nicht unmittelbar entscheidend ist. Sicher ist, dass man über Beteiligungsformate die Ursachen für Vertrauensverlust früher identifiziert.
Ist eine Ursache nicht gerade, dass der nationalen Politik immer mehr Entscheidungskompetenzen entzogen und an Gerichte oder supranationale Institutionen übertragen werden? Da fragt man sich doch: Weshalb soll ich überhaupt noch wählen gehen?
Die Übertragung von Kompetenzen an internationale Gremien ist eine Folge der erhöhten Komplexität und der Beschleunigung. Es ist eine Illusion, dass die Länder die Kontrolle einfach zurückholen können. Das haben die Briten schmerzhaft erfahren. Ich zitiere im Buch wichtige Forscher zu Themen wie Komplexität, Beschleunigung und Verlust an Sicherheit. Alle kommen zu dem Schluss, dass es sich um Entwicklungen handelt, die kaum zu stoppen sind. Der Wunsch nach mehr Kontrolle und Transparenz, um das verlorengegangene Vertrauen wieder zu begründen, ist eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit.
Es ist also kaum möglich, das Vertrauen zurückzugewinnen?
Doch, aber es ist schwierig. Der wichtigste Hebel: Der Staat muss dafür sorgen, dass immerhin jene Bereiche, die er noch selber in der Hand hat, gut funktionieren. Dass in Deutschland das Bildungssystem marode ist, dafür kann man weder die Globalisierung noch Putin noch die EU verantwortlich machen. Dass wir ein Militär haben, das das Land nicht verteidigen könnte, ist ebenfalls hausgemacht. Dasselbe gilt für die Probleme bei der Rentenvorsorge oder bei der Bahn. In diese Bereiche muss man die ganze Energie setzen. Zugleich müssen wir damit leben lernen, dass wir Vertrauen nicht schnell zurückgewinnen können.
Sie nennen im Buch zwei Ereignisse, die das Vertrauen stark beschädigt haben: die Finanzkrise 2008 und Corona 2020. Und Sie sagen: Falls es wieder zu einer solchen Krise komme, was sehr wahrscheinlich sei, werde alles viel schlimmer.
Die Finanzkrise hatte letztlich überschaubare Auswirkungen, weil das Vertrauen in die Institutionen und in die Regierung noch einigermassen intakt war. Auch zu Beginn der Flüchtlingskrise war das Vertrauen in Angela Merkels Politik noch recht gross. Selbst in den ersten Wochen der Pandemie war es noch da, ist dann aber rapide geschwunden. Beim Ukraine-Krieg haben wir in Deutschland schon sehr früh eine polarisierte Situation beobachten können. Das Vertrauen in die Regierung ist nachweislich gesunken. In normalen Zeiten ist das nicht so schlimm, doch in einer Krise, in der eine Katastrophe nur über kollektives Handeln abgewendet werden kann, in der Rücksicht und Zusammenhalt entscheidend sind, wird das zu einer echten Gefahr.
Was könnte passieren?
Ich gebe ein Beispiel. In der Finanzkrise von 2008 sagten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück, die Spareinlagen auf den Banken seien sicher. Die Menschen haben ihnen vertraut, deshalb kam es nicht zu einem Bankensturm. Die Banken hätten einen solchen nicht überlebt. Dank dem Vertrauen konnte also eine Eskalation der Krise abgewendet werden. Ich bin nicht sicher, ob das heute noch möglich wäre.
Als weitere Ursache für den Vertrauensverlust nennen Sie die zunehmende Verrechtlichung von sozialen Verhältnissen.
Wenn alles bis ins Detail gesetzlich geregelt ist, so ersetzt und schwächt dies das Vertrauen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Es wäre nicht notwendig, dass bei Nachbarschaftsverhältnissen alles bis auf den Millimeter vorgeschrieben ist. Die Leute sollen kleinere Konflikte untereinander regeln. Auch die vielen Vorschriften für Firmen sind kontraproduktiv. In vielen Unternehmen sind die Kontrollmechanismen, also die Bürokratie und die Rechtsabteilung, fast schon teurer als die Produktivkräfte. Vor allem verhindern all die Kontrollmechanismen, dass sich die Menschen gegenseitig vertrauen. Und der Staat zieht immer mehr an sich und enttäuscht dann zunehmend. Anstatt jede Kleinigkeit rechtlich zu regeln, sollte wieder mehr Raum für Vereinbarungen auf Handschlag sein, für Gentlemen’s Agreement.
Aladin El-Mafaalani: Misstrauensgemeinschaften. Zur Anziehungskraft von Populismus und Verschwörungsideologien. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025. 128 S. Fr. 16.–
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