Mitten in einer Pest-Epidemie schreibt Boccaccio sein frivolstes Werk

Vor 650 Jahren ist der Dichter der burlesken Novellensammlung «Dekameron» gestorben. Im Angesicht des Todes hatte er die Kühnheit, derbe und obszöne Geschichten zu erzählen.

Am frühen Nachmittag des 25. Januar 1348 bebte in Norditalien die Erde. Es war ein massives Beben, das Epizentrum lag im Friaul, wo es zu schweren Zerstörungen kam und die Menschen in Angst und Schrecken versetzt wurden. Die Auswirkungen waren weitherum zu spüren. In Villach in Kärnten kam es zu einem Bergsturz, in Venedig stürzten Häuser ein, bis hinunter nach Bologna waren die Erschütterungen zu spüren.
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Der italienische Dichter Giovanni Boccaccio hielt sich in jenen Tagen in der Romagna auf, teils in Ravenna, teils in Forlì. Ob er das Beben am eigenen Leib erfahren hat, wissen wir nicht, doch wird er davon gehört haben. Denn die Schreckensberichte machten rasch die Runde, wenn nicht aus der Gegend des Epizentrums, dann gewiss aus Venedig oder Mailand, wohin Boccaccio zahlreiche Beziehungen unterhielt.
Mochte er von dem Erdbeben also nur am Rande betroffen gewesen sein, so musste es ihm doch alsbald wie ein Menetekel eines noch sehr viel grösseren Unheils erscheinen. Aus seiner Heimatstadt Florenz, wo er am 16. Juni 1313 geboren worden war, erreichten ihn Nachrichten, die ihn aufs Höchste alarmierten. Denn ebenfalls im Januar begann sich von Genua her die Pest in Italien auszubreiten. Im März 1348 erreichte sie Florenz, wo noch immer Boccaccios Vater lebte, dem die Stadt die Aufsicht über die Einhaltung der Hygienevorschriften übertragen hatte.
Boccaccios Vater sollte der Pest zum Opfer fallen wie auch ein grosser Teil der Florentiner Bevölkerung, ein Drittel bis zur Hälfte der Menschen soll in der toskanischen Stadt an der Seuche gestorben sein. Im Sommer 1348 kam Giovanni Boccaccio zurück nach Florenz, wo ihn – der in jungen Jahren immerhin eine Art Banklehre im Geschäft seines Vaters absolviert hatte – die Behörden mit der Kontrolle der Steuereintreibung beauftragten.
Flucht vor der Pest aufs LandBoccaccio blieb zwar von der Pest verschont. Aber selbst wenn im Sommer und frühen Herbst 1348 die Seuche abflaute, so wurde er doch Zeuge eines grauenvollen Massensterbens, das sich vor aller Augen abspielte. Was er in den Gassen von Florenz gesehen und vielleicht in seinem engsten Freundeskreis erlebt hat, was er über ähnliche Seuchen in früheren Jahrhunderten gelesen hat, es wird eingeflossen sein in seine Pest-Chronik. Unbekannt ist, wann genau er sie geschrieben hat, fest steht nur, dass er sie seinem bekanntesten Werk als Einleitung vorausgeschickt hat.
In den auf die Pest folgenden Jahren schreibt er die hundert Novellen seines «Dekameron». Es ist vielleicht nach Homers «Odyssee» und Dantes «Divina Commedia» das berühmteste Werk aus der Antike und dem Mittelalter. Vermutlich ist kein Werk so oft verfilmt worden wie Boccaccios Feier des von allen irdischen Zwängen und Nöten befreiten lustvollen Lebens und Erzählens. Und kaum ein anderes literarisches Werk ist in vergleichbarem Masse ins kulturelle Volksgut eingegangen wie das «Dekameron». Boccaccio selber hat zu einem grossen Teil aus dem volkstümlichen, überlieferten Anekdoten- und Legendenschatz geschöpft, während seine Novellen wiederum vielfach weitergeschrieben und adaptiert worden sind.
Nicht zuletzt erfuhr dieses aus einer Seuchenzeit hervorgegangene Buch während der Covid-Pandemie eine fabelhafte Renaissance. Neben Albert Camus’ «Die Pest» und Daniel Defoes «Die Pest zu London» wurde auch das «Dekameron» vorübergehend zu einem Bestseller. Eine ratlose Bevölkerung suchte darin Unterhaltung sowie erfahrungsgesättigte literarische Anschauung und Auseinandersetzung.
Bemerkenswerterweise hat Boccaccio dem Personal seines «Dekameron» sinngemäss verordnet, was die Behörden den Menschen rund um den Globus auch 2020 noch empfahlen: «Bleiben Sie zu Hause!» Die sieben Frauen und drei Männer in Boccaccios Novellenbuch bleiben zwar nicht zu Hause. Doch sie flüchten aus dem pestverseuchten Florenz in ein Landhaus ausserhalb der Stadt, um sich im Schutz dieser selbstverordneten Abgeschiedenheit des Lebens zu erfreuen, solange es ihnen noch erhalten bleibt.
Literaturpolitische AmbitionenDass sie sich in zehn Tagen reihum je zehn Novellen erzählen – insgesamt also hundert –, die vornehmlich frivolen und erotischen Inhalts sind, könnte angesichts der Umstände auf ein insgesamt amoralisches und obszönes Vorhaben schliessen lassen. Doch das Geschichtenerzählen gehört schon immer und spätestens seit Scheherazade zu den Überlebensstrategien in Zeiten grosser Bedrängnis. Um dennoch jeden Argwohn auszuräumen, stellt Boccaccio der Novellensammlung seine Chronik der Pest voran.
Noch ehe er darin die Geschwülste in Achselhöhlen und Pestbeulen am Körper der Erkrankten schildert, das Leiden und Sterben in drastischer Anschauung zeigt und von der Ratlosigkeit selbst der Ärzte berichtet, schickt er, fast entschuldigend, voraus: «Dieser schreckensreiche Anfang soll euch nicht anders sein wie den Wanderern ein steiler und rauer Berg, jenseits dessen eine schöne und anmutige Ebene liegt, die ihnen um so wohlgefälliger scheint, je grösser die Anstrengung des Hinauf- und Hinabsteigens war. Und wie der Schmerz sich an das Übermass der Lust anreiht, so wird auch das Elend von der hinzutretenden Freude beschlossen.»
Allerdings verfolgt Boccaccio mit dem «Dekameron» auch gleichsam literaturpolitische Ambitionen. Schon in jungen Jahren hat er zu dichten begonnen, allerdings mangels klassischer Bildung nicht auf Lateinisch, sondern in der Nachfolge Dantes und später Petrarcas im volkssprachlichen Italienisch. Stets aber plagen ihn Selbstzweifel und mitunter auch Depressionen. Dennoch stellt sich der Dichter mit seinem «Dekameron» kühn an die Seite von Dantes «Divina Commedia», wie die Romanistin Franziska Meier in ihrer zum 650. Todestag von Boccaccio erschienenen glänzenden Biografie darlegt.
Wie Dante hundert Gesänge versammelt, so macht es Boccaccio mit seinen Novellen. Doch während in der «Divina Commedia» Dante auf seiner Jenseitsreise von der Hölle ins Paradies aufsteigt, bleibt Boccaccio mit seinen Novellen ganz der diesseitigen Welt verhaftet, und zwar in ihrer dezidiert burlesken, körperlichen und erotischen Ausstattung. Boccaccio vollzieht, ohne Dante zu verraten, aber doch mit deutlich ihm entgegengesetzter Haltung, eine Hinwendung zu den weltlichen und allzumenschlichen Regungen. Er überhöht den Menschen nicht, er feiert ihn in seiner Sinnlichkeit wie in seiner Unvollkommenheit.
Auch in seiner Lyrik setzt sich Boccaccio von seinen Idolen Dante und Petrarca ab. Christoph Ferber hat die Sonette des Florentiner Dichters jetzt zum ersten Mal überhaupt in eine Fremdsprache übersetzt. Boccaccios Lyrik ist selbst in Italien nur wenig bekannt. Nun holt Ferber diese Gedichte mit seiner zwar reimlosen, aber leicht lesbaren, rhythmisch genauen Übersetzung aus ihrer Verborgenheit. Auch sie zelebrieren die Sinnlichkeit und die Unvollkommenheit des Menschen. Sie singen das Lied der Liebe und die Elegien der Niederlage.
So erinnert sich das Ich in einem der Gedichte an seinen früheren Glauben, ein in Liebe entflammtes Herz würde nicht brennen, vielmehr nach Höherem und nach Glück streben. Allein, die Erfahrung sei eine andere, heisst es nun, das Herz «verkohlt in diesem Feuer» und will nur noch den Tod. «Doch da’s ihn in des Feuers Glut nicht findet, / in der es brennt und weint, geht es im Leben / ihm unvergleichlich schlechter als im Tode.»
Verdammt zur ImmobilitätMan wird nicht sagen können, dass es Boccaccio im Leben «unvergleichlich schlechter als im Tode» erging, aber er war ein Getriebener. Geboren in Florenz, aufgewachsen in Neapel, führte er ein unstetes Leben mit für diese Zeit vielen beschwerlichen und gefährlichen Reisen, die ihn mehrmals nach Neapel, nach Venedig und Mailand und als Gesandter an den päpstlichen Hof in Avignon brachten.
Umso schmerzlicher muss es für ihn gewesen sein, dass eine Krankheit seinen Körper zuletzt aufquellen liess und ihn zur Immobilität zwang. Er sei «zu einem Fass» geworden, schreibt er in einem der Gedichte, «nicht voller Wind, doch voller Blei, so dass ich / im Bett mich kaum noch rühre oder drehe». Bald werde nur Gott ihm noch zu helfen wissen. Am 21. Dezember 1375 starb Giovanni Boccaccio mit 62 Jahren in Certaldo bei Florenz.
Indessen entsteht noch in seinen letzten Lebensjahren ein weitreichendes Vermächtnis. Zu Beginn der 1370er Jahre fertigt er, wie Franziska Meier in ihrer Biografie anschaulich schildert, eine letzte, heute in Paris aufbewahrte komplette Abschrift seines «Dekameron» an: Er gibt ihr, man könnte es blasphemisch nennen, die Gestalt einer illuminierten Bibel. Als hätte er eine weltliche Bibel schaffen wollen in der Erwartung, dass auch sie die Jahrhunderte überdauern würde.
Noch ein Werk gelingt ihm, das die Jahrtausendschwelle überwinden sollte: Die Stadt Florenz beauftragt ihn im August 1373, öffentliche kommentierte Lesungen aus Dantes «Divina Commedia» zu halten. Fast sechs Monate schafft er es noch, dann zwingt ihn die Krankheit zum Abbruch.
Er begründete damit die Tradition der «Lectura Dantis». Sie wird bis heute an Universitäten und im Privaten fortgeführt. Mit den Lesungen und Erläuterungen des Komikers Roberto Benigni im italienischen Fernsehen und auf Plätzen in den Städten Italiens hat die «Lectura Dantis» inzwischen legendären Status erlangt.
Giovanni Boccaccio: Auf einer Wiese, rings um eine Quelle. Sonette. Italienisch – Deutsch. Ausgewählt und übersetzt von Christoph Ferber. Mit einem Nachwort von Franziska Meier. Dietrich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2025. 204 S., Fr. 36.90. – Franziska Meier: Giovanni Boccaccio. Dichter in schwarzen Zeiten. Eine Biografie. Verlag C. H. Beck, München 2025. 415 S., Fr. 43.90.
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