Michael Andrick: Warum wird über dieses Buch kaum gesprochen?

Rainer Mausfelds Werk über die „Entzivilisierung von Macht“ wird wenig diskutiert, obwohl es Schein und Sein westlicher Politik transparent macht. Oder deswegen?
Im Streit über die politischen Themen des Tages fragt fast niemand, was für eine Art von Geschehen Politik eigentlich ist – welche Akteure in ihr eine Rolle spielen, um welche Güter es sich dabei dreht und wie ihr Spielfeld abgegrenzt ist.
Der Kieler Kognitionswissenschaftler Rainer Mausfeld hat mit „Hybris und Nemesis – Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt“ schon 2023 einen materialreichen Leitfaden vorgelegt, mit dem sich die geistige Hausaufgabe jedes Bürgers, sich politisch einmal grundlegend aufzuklären, gut bearbeiten lässt.
Als Ermutigung zu dieser Übung diskutiere ich hier zwei wesentliche Thesen seines Buches: Politik sei immer die Entstehung und der Ausgleich von Macht und Gegenmacht, und die „repräsentative“ Demokratie sei ein Instrument zur Demokratieverhinderung. Die Zitate sind aus „Hybris und Nemesis“.
Macht und GegenmachtPolitik dreht sich um Macht und Gegenmacht. Wo Menschen beisammen sind, da haben manchmal Einzelne besondere Einflussmöglichkeiten. Einer ist besonders stark, ein anderer jagt besonders erfolgreich, ein Dritter – Mausfelds bespricht diesen Fall nicht – hat aus innerpsychischen Gründen ein rasendes Bedürfnis, von anderen anerkannt, ja geliebt zu werden.
Solche „Emporkömmlinge“, deren ungestilltes „Mehrhabenwollen auf Kosten anderer“ Raum erhält, können andere durch Gefälligkeiten und Übervorteilen in ihre Abhängigkeit bringen. Bei Jägern und Sammlern ist dies besonders gefährlich für die Gruppe, unter anderem, weil bei unsicherem Zugang zu Nahrung nur ein promptes und egalitäres Teilen des Gefundenen untereinander die Überlebensmöglichkeiten der Gruppte optimiert.
Mit Ackerbau, Viehzucht und Lagerhaltung werden neue Bestätigungsfelder für „parasitäre Eliten“ eröffnet, die sich einen Teil des Ertrages anderer Leute Arbeit aneignen und damit Zwangsstrukturen unterhalten, um an der Macht zu bleiben.
Deswegen entwickeln menschliche Gemeinschaften seit jeher „zivilisatorische Schutzbalken“, um das Entstehen und Korruptwerden von Besitz- oder Machteliten zu vermeiden oder zu bremsen. Macht erzeugt Gegenmacht.
Mausfeld berichtet von Jäger-und-Sammler-Stämmen, die einen Jagderfolg nicht dem Jäger zurechnen, sondern dem Hersteller der tödlichen Pfeilspitze – wobei die Pfeilspitzen zufällig nach jeder Jagd untereinander getauscht werden. Auch fanden es manche Gemeinschaften hilfreich, eine besonders große Jagdbeute mit ritueller Verspottung des Jägers und „Beleidigung“ des erlegten Tieres als klein und unbedeutend zu vergelten: kreative Egomanieprophylaxe.
In den frühen Königtümern Mesopotamiens war eine Pluralität von Machtformen normal, und „gruppenzentrierte Entscheidungsprozesse“ existierten als ausgleichende Momente zugleich mit verschiedenen Formen des Königtums.
Erst mit dem modernen Territorialstaat gelang den Eliten die perfekte Einrichtung zur „Schutzgelderpressung“ (Charles Tilly), der wir – anders als „Machtunterworfene“ der Bronzezeit, die bei zu drückenden Lasten einfach woanders hingehen konnten – nicht mehr entkommen können. Denn überall um uns sind heute Staaten.
In dieser Situation ist das Erzeugen einer Gegenmacht zu korrupt gewordenen Besitz- oder Machteliten besonders schwer. Das mag Mausfelds Beobachtung mit erklären, dass in der Geschichte Umwälzungen hin zu mehr Freiheit für Nichtreiche in aller Regel erst nach einer langen „Blutspur“ brutaler Machtexzesse gelangen.
Athenische DemokratieDemokratie ist heute nirgends. In keinem Staat der allgemein als „westliche Welt“ bezeichneten Erdengegend existiert heute Demokratie, wenn man Mausfelds an sich einfacher Darlegung folgt. Denn was war das noch gleich, Demokratie? Wahlen vielleicht? Nun ja, Wahlen haben eigentlich nicht viel mit Demokratie im ursprünglichen Sinne zu tun. Demokratie ist die strikte „Vergesellschaftung“ politischer Macht, die Rückbindung jeder Machtausübung „an die gesellschaftliche Basis“, kurz: Volkssouveränität.
In Athen wurde diese Ordnung erfunden; erinnern wir an ein paar Etappen dieser Entwicklung. Solon, der bis 560 v.Chr. lebte, teilte Attika in 139 Demen, (zu Deutsch: Volksgemeinschaften) ein, die Bürger verschiedener Stände zusammenbrachten, die vorher oft kaum Kontakt hatten.
Er schaffte die Schuldknechtschaft ab und befreite die Bauern von Frondiensten, richtete der untersten von drei Besitzklassen den Rat der 400 ein, der auf Zeit mit Mitgliedern aller Demen besetzt war und staatspolitisch wichtige Machtbefugnisse hatte. Auch schuf er die Möglichkeit der Popularklage, um dem Volk eine Handhabe gegen Aristokratenwillkür zu verschaffen.
Kleisthenes erweiterte die politische Beteiligung und stellte in der per Los besetzten Volksversammlung weitestgehende Redefreiheit sicher, die nur Gotteslästerung ausschloss. Auch führte er Tagegelder und für Ämter Diäten ein, um „unabhängig vom Besitz“ politisches Engagement zu ermöglichen.
Zur Zeit des Charismatikers Perikles hatte sich „erstmals in der Zivilisationsgeschichte“ ein Gebilde geformt, in dem „das Volk sich auf Basis politischer Gleichheit aller Bürger selbst regiert“ – allerdings unter Ausschluss der absoluten Mehrheit von Frauen, sogenannten Mitwohnern (Metöken) ohne athenisches Bürgerrecht und Sklaven.
Wahloligarchie statt DemokratieWahlen spielten eine untergeordnete Rolle weil sie, wie Aristoteles in seiner „Politik“ damals festhielt, ein exklusives, die Aristokratie stützendes Verfahren sei. Denn Reiche hätten aufgrund ihrer Einflussmöglichkeiten bei Wahlen stets ungleich bessere Chancen als normale Bürger. Aristoteles war Gegner der Demokratie, da er befürchtete, die Reichen könnten von den Massen enteignet werden.
Darin war er sich mit Alexander Hamilton und James Madison, Gründervätern der Vereinigten Staaten von Amerika, fast bis aufs Wort einig. In dem zum guten Teil aus Sklavenhaltern und fast nur aus sehr reichen Delegierten bestehenden Verfassungskonvent von 1787 lehnte man die athenische Demokratie ab.
Man war sich einig, dass die Reichen und Begüterten das Geschick des Landes bestimmen müssten, damit die Besitzverhältnisse stabil blieben. Die Regierung müsse im neuen Staat, so James Madison in einer nichtöffentlichen Debatte des Konvents im Juni 1787, „die Minderheit der Wohlhabenden gegen die Mehrheit schützen.“
Dazu war es ideologisch hilfreich, sich die normale Bevölkerung als Horde irrationaler Kinder vorzustellen, die zu einer ernsthaften Verantwortungsübernahme weder fähig noch willens sei und deshalb von „ernsthaften Leuten“ geleitet werden müsse.
Bis ins 20. Jahrhundert wünschen sich amerikanische Leitintellektuelle wie Walter Lippmann und Leo Strauss, dass die „ungebärdige Herde von Gaffern“ sich bitte vor allem mit den „Comics“ der Tageszeitungen und ihren „engsten privaten Belangen“ befassen sollte.
Im Ergebnis führte man eine Wahloligarchie des Namens „repräsentative Demokratie“ ein, die das Privateigentum heiligspricht und die „Funktionslogik des Kapitalismus“ damit nicht antastet. Dieses Konzept diente nach Mausfelds historischer Darlegung „von Anfang an der Demokratieabwehr … um eine Oligarchie über Wahlen an der Macht zu halten“, in denen die normale Bevölkerung ihre Repräsentanten aus einer von den Besitzenden und ihren Lakaien vorselektierten Kandidatenliste aussuchen darf.
Stets bleibt die repräsentative Demokratie mit kapitalistischem Wirtschaftssystem, wie Mausfeld detailliert und quellenreich aufzeigt, auf „ideologische Macht“ angewiesen – auf die gezielte Manipulation der Wahrnehmung ihrer Bevölkerung über Massenmedien und das gesamte Erziehungswesen.
Irgendjemand muss den Leuten ja erklären, dass unbegrenzter Reichtum in beliebig wenigen Händen mit politischer Gleichheit vollkommen vereinbar ist, dass „das Volk“ zu dumm und schlecht ist, seine eigenen Belange zu regeln und deshalb Vormundschaft benötigt und – ganz wichtig – dass die Welt sooooo komplex ist, dass nur regierungserwählte Experten sie für uns durchschauen können.
Aus „Hybris und Nemesis“ kann mancher selbsternannte „Demokrat“ des „Wertewestens“ erfahren, dass er tatsächlich nichts weniger ist als das. Das Arrangement, in dem wir Menschen vielerorts leben, wird Mausfeld zufolge erst seit dem „größten Wortbetrug der Geschichte“ als „Demokratie“ bezeichnet. Diesen Befund mögen deutsche Intellektuelle offenbar nicht gern diskutieren.
Michael Andrick ist Philosoph und Bestseller-Autor. Sein letztes Buch „Ich bin nicht dabei – Denk-Zettel für einen freien Geist“ erschien im Mai. Rainer Mausfelds Werk „Hybris und Nemesis“ ist 2023 im Westend Verlag erhältlich.
Berliner-zeitung