Interview mit Hanna Schygulla: Wo ist für Sie Heimat?

Frau Schygulla, wie oft klingelt bei Ihnen das Telefon, ein junger Regisseur ist dran und möchte Sie gern in seinem nächsten Film besetzen?
So oft passiert das nun wirklich nicht. Aber manchmal schon. Mir fallen da Fatih Akin mit „Auf der anderen Seite“ ein oder auch der französische Regisseur François Ozon mit „Peter von Kant“ - was einen besonderen Charme hatte, weil Ozons Vorlage der Fassbinder-Film „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ war. Und da war ich Anfang der Siebziger ja auch schon dabei.
Und jetzt hat Sie der 1991 in Kiew geborene und auf den Golanhöhen aufgewachsene Regisseur Ameer Fakher Eldin gebeten, eine Pensionswirtin auf einer Hallig im norddeutschen Wattenmeer zu spielen: Waren Sie verblüfft über das Angebot?
Erst mal habe ich Ameer Fakher Eldin zurückgefragt, ob er mich als Insel-Urgestein wirklich für überzeugend hält. Ich hatte auch die Idee, dass er mir ein Flüchtlingsschicksal andichtet, das mich auf die Hallig Langeneß verschlagen hat. Das schien mir plausibel. Schließlich kenne ich ja dieses Schicksal am eigenen Leib: Ich war ein Kleinkind, als meine Mutter 1945 mit mir vor der Roten Armee aus Oberschlesien nach München flüchtete.
Was hat Ihr Regisseur geantwortet?
Solche Details interessierten ihn gar nicht. Irgendwann hat er dann doch gesagt, ich könne in meine Dialoge einfügen, was ich will. Da hatte ich aber längst verstanden, dass meine Figur so einen biografischen Hintergrund gar nicht braucht. In „Yunan“ geht es zuerst um Fremdheit und Isolation. Einen verzweifelten syrischen Schriftsteller im Exil zieht es auf eine Hallig.
Er findet Trost bei Valeska, also bei der von Ihnen gespielten Hallig-Wirtin. Wie holt Valeska ihn aus seiner Traurigkeit heraus?
Sie lässt ihn in ihr Leben treten und vermittelt ihm: Warum schaust Du so verloren in die Welt? Mach doch einfach mal die Augen auf, Junge! Sie predigt aber nicht, das passiert eher instinktiv. Sie leiht ihm zum Beispiel ein Fahrrad. Sie spürt seine Verlorenheit und lässt ihn auf ihre - ziemlich ruppige Art - nicht allein. Das Leben hat manchmal dann doch eine größere Anziehungskraft als das große Unbekannte - als der Tod.

Tanz auf einer Hallig: Georges Khabbaz und Hanna Schygulla in einer Szene des Films "Yunan".
Quelle: -/© 2025 Red Balloon Film, Prod
Können Sie sich vorstellen, auf einer Hallig zu sitzen, übers Watt zu schauen und ihr Leben Revue passieren zu lassen?
Kommt darauf an, wen ich dabeihabe. Es müsste schon jemand sein, der mir nahesteht. Die Leere auf so einer Hallig macht etwas mit dir. Die musst du mit etwas Eigenem füllen.
Ihre Figur Valeska verfügt offenbar über eine gehörige Portion Weisheit. Kommt Weisheit mit dem Alter?
Tja, da ist niemand geschützt vor, der lange genug lebt. Bei mir hat sich eine gewisse Gelassenheit entwickelt. Ich kann etwas lassen, auch zulassen, das steckt in dem Wort ja auch drin. Ich muss nicht mehr um irgendetwas kämpfen. Diese innere Freiheit hilft sehr, wenn die Kräfte schwinden. Sollen sich doch die anderen plagen und streiten.
Aber Sie haben Ihren Film „Yunan“ auf der Berlinale präsentiert. So ein Festival ist anstrengend, eng getaktete Termine, Hetzerei, Lärm und Aufregung. Warum tun Sie sich diesen Stress an?
Ich wollte den Film ein bisschen anschieben. Wenn „Yunan“ durch meine Auftritte ein bisschen sichtbarer wird zwischen so vielen anderen Filmen, dann ist das doch prima. Rote Teppiche brauche ich allerdings nicht mehr unbedingt in meinem Leben.
Können Sie sich mit einem Fremdheitsgefühl identifizieren, wie es der syrische Schriftsteller auf der Hallig in sich trägt?
Auf jeden Fall, gleich in mehrfacher Hinsicht. Wer mit Kunst und Kultur zu tun hat, für den ist das Fremde ja auch Inspiration: Es braucht den fremden Blick auf etwas Bekanntes. Sonst bräuchten wir nichts neu zu gestalten. Du merkst plötzlich, dass so vieles, was selbstverständlich scheint, gar nicht selbstverständlich ist. Es sind auch ganz neue Perspektiven aufs Leben möglich. Gerade als Schauspielerin kann ich in ein fremdes Leben eintauchen, ohne die letzten Konsequenzen zu tragen. Ich komme ja auch wieder raus aus diesem Leben.
Wo ist Ihnen Fremdheit in Ihrem Leben noch begegnet?
In meiner Kindheit in München hatte ich viel damit zu tun. Aus dieser Zeit ist vor allem ein Gefühl hängengeblieben: Ich war das Flüchtlingskind. Es gab noch schlimmere Worte, die mir die Schulkinder nachgerufen haben. Eines habe ich damals gar nicht verstanden, „Polen-Matz“. Ich dachte, es heißt übersetzt „Das Polen-Mädchen“. Tatsächlich hieß es „Die Polen-Sau“, wie ich erst später erfuhr. Vermutlich war es gut so, dass ich das Schimpfwort nicht kannte: Unwissenheit schützt manchmal doch.
Ist Heimat für Sie ein Ort?
Heimat bedeutet für mich, dass ich bei mir selbst bin. Wenn ich in mir selbst ruhe, aber nicht nur um mich kreise. Ich befinde mich dann in einer Art Balance. Wie sagen die Amerikaner? „Home is where my heart is.“ Also da, wo mein Herz schlägt, da will ich zu Hause sein.
Und wofür schlägt Ihr Herz?
Für alles, was im weitesten Sinne mit Liebe zu tun hat. Es schlägt bestimmt nicht für einen hohen Kontostand. Wobei ich gleich hinzufügen muss: Ich kann mir den Luxus erlauben, nicht über Geld nachdenken zu müssen. Viele andere sind nicht in dieser privilegierten Position.
Bedeutete die Münchener Schauspieltruppe um Rainer Werner Fassbinder in den Siebzigern Heimat für Sie?
Nein, ich fühlte mich dieser Gruppe nie wirklich zugehörig. Obwohl die ein schönes Haus mit Swimmingpool am Rande von München hatten. In diese Kommune bin ich aber nie wirklich eingetaucht. Ich bin immer nur mit dem Fahrrad hin. Es wimmelte dort von Filmschaffenden. Man schneite einfach so rein, es ging lustig zu.
In beinahe allen Filmen von Rainer Werner Fassbinder war Hanna Schygulla dabei, von "Liebe ist kälter als der Tod" (1969) über "Fontane Effi Briest" (1974) bis zu "Die Ehe der Maria Braun" (1978) und "Lili Marleen" (1980). Es kam zu Zerwürfnissen zwischen den beiden, aber zusammen prägten sie das deutsche Kino. Nach Fassbinders Tod reiste Schygulla durchs europäische Kino. Sie arbeitete mit Jean-Luc Godard, Marco Ferreri, Carlos Saura, Ettore Scola, Andrzej Wajda, Rosa von Praunheim und Margarethe von Trotta. Geboren wurde Schygulla 1943 in Königshütte in Oberschlesien. Ihre Mutter Antonie flüchtete mit ihr 1945 nach München. Ihr Vater kehrte erst 1948 aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Nach dem Abitur ging Schygulla für ein Jahr als Au-pair nach Paris. In München traf sie Rainer Werner Fassbinder, der sie an sein Action-Theater holte. Schygulla tritt ebenso als Chansonsängerin auf. 2013 veröffentlichte sie ihre Autobiografie mit dem Titel "Wach auf und träume". Dem Kino kam sie nie abhanden. Sie spielte in "Auf der anderen Seite" (2007) von Fatih Akin und genauso in Giorgos Lanthimos' Oscar-Film "Poor Things" (2023). Bei der Berlinale im Februar war Schygulla im Kinodrama "Yunan" (Kinostart: 13. November) von Regisseur Ameer Fakher Eldin zu sehen - als eine Pensionswirtin auf der Hallig Langeneß, die einem syrischen Exil-Schriftsteller ins Leben zurückhilft.
Sind Sie in die Intrigen hineingezogen worden, von denen im Umfeld von Fassbinder stets die Rede ist?
Davon war ich nicht wirklich betroffen. Vielleicht haben die mich auch nicht sonderlich gemocht und deshalb in Frieden gelassen. Wie das so ist, wenn jemand mehr berufliche Möglichkeiten hat als andere. Dann wird man entweder bewundert oder beneidet.
Und wo ist heute Ihr Zuhause?
Lange habe ich gedacht, dass Berlin meine Endstation sein würde. Aber jetzt lasse ich Berlin wieder hinter mir. Zwei Städte sind mir zu viel. Der Spagat zwischen Paris und Berlin ist mir zu groß.
Wie sieht Ihr Pariser Leben aus?
Ich habe alles in guter Nähe. Wenn ich einkaufen gehe, komme ich an meinem Lieblingslokal vorbei, einem Bistro. Es heißt Le Temps des Cerises. Da kann ich einen Kaffee trinken oder auch gut essen. Das Bistro ist ein bisschen Heimat, auch wenn ich da nun nicht dauernd in Bekannte hineinlaufe.
Begleitet Sie das Thema Flucht und Vertreibung bis heute?
Ich arbeite mit afghanischen Flüchtlingen, mit unbegleiteten Jugendlichen. Sie sind als Minderjährige nach Deutschland gekommen, und innerhalb von einigen Jahren ist aus ihnen etwas geworden. Allerdings weiß ich nicht recht, ob ich die Arbeit künftig weiter machen kann.
Haben die jungen Menschen aus Afghanistan Angst in einem Deutschland, das nur noch darüber nachzudenken scheint, wie sich Flüchtlinge am schnellsten abschieben lassen?
Nein, diese Menschen sind heute integriert. Sie haben eine Arbeit, ihr Auskommen. Tatsächlich war ich davon angetan, wie offen ihnen deutsche Unternehmen begegnet sind. Es gibt mehr tolerante Deutsche, als man glauben mag, wenn man die aufgeregten Debatten über Flüchtlinge verfolgt. Ich glaube sowieso, dass hinter diesen Debatten Angstreflexe lauern.
Was verstehen Sie darunter?
Es herrscht so viel Ungewissheit darüber, wie hier in Deutschland alles weiter geht. Da spielt noch viel mehr rein als die paar Fremden, die bei uns sind. Die müssen als Sündenböcke herhalten: Schuld sind immer die anderen. Dabei sollten die Deutschen froh sein. Ohne die ausländischen Menschen würde hier alles zusammenbrechen. Pflegekräfte, Servicepersonal, auch Ärzte würden in Mengen fehlen.
Fühlen Sie sich noch in einem Land heimisch, in dem Politiker und Politikerinnen mit rechten Slogans um sich werfen?
Heimisch nicht, und ganz gewiss ist mir nicht heimelig zumute. Es ist noch nicht lange her, dass wir Deutschen erlebt haben, was Hass mit Menschen macht. Im Nachkriegsdeutschland in München war das noch zu spüren. Deshalb bin ich sofort als Au-pair nach Paris gegangen. Ich hatte diesen Drang, aus dem Nazi-Nest München rauszukommen. Das ging vielen in meiner Generation so, gerade auch aus der Kinoszene. Denken Sie an Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta, die ebenfalls nach Frankreich wechselten. Wim Wenders zog es nach Amerika.
Haben Sie Angst um das demokratische Deutschland?
Die Abwehrkräfte gegen rechts sind immer noch stark hierzulande. In Frankreich habe ich es in jüngster Zeit jedenfalls nicht erlebt, dass Hunderttausende auf die Straße gegangen sind. Und dabei protestieren die Franzosen gern. In Deutschland dagegen ist gleich mehrfach gegen Rechtsextremismus demonstriert worden. Aber natürlich bin ich besorgt über den in Deutschland aufkommenden Nationalismus. Der hat immer nur Elend und Kriege über die Menschen gebracht.
rnd