Weimarer Verhältnisse in Nahost?


Das politische System Israels befindet sich seit Jahren in einer tiefgreifenden Krise. Nicht nur wegen einer zunehmenden politischen Polarisierung, sondern vor allem wegen gravierender struktureller und institutioneller Mängel, die tief in der Geschichte des Staates wurzeln.
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Während derzeit viele Demokratien in Europa und natürlich auch die USA mit grossen Herausforderungen ringen, ist Israels System in seiner Instabilität, Fragmentierung und Missbrauchsanfälligkeit einzigartig. Es ist ein System, das einem Mann wie Benjamin Netanyahu erlaubt, trotz einem laufenden Korruptionsprozess wiederholt an die Macht zu kommen. In einer funktionierenden Demokratie ein absolutes Unding.
Einer der Hauptgründe für diese Misere: Israel hat keine kodifizierte Verfassung, sondern ein Sammelsurium aus sogenannten Grundgesetzen, die im Laufe der Zeit verabschiedet wurden. Gedacht waren sie als Übergangslösung, bis eine Verfassung entsteht. Doch bis heute existiert keine, auch deshalb nicht, weil die orthodoxen Parteien darauf bestehen, dass das jüdische Volk längst eine Verfassung habe: die Religionsgesetze der Thora.
Monothematische ParteienDas Fehlen einer säkularen Verfassung gibt der Knesset, dem Parlament, eine Machtfülle, die für eine moderne Demokratie ungewöhnlich ist. Grundgesetze können mit einfacher Mehrheit geändert werden, sogar wenn es sich um so heikle Themen wie Menschenrechte oder Justiz handelt. Hinzu kommt, dass es keine zweite Kammer gibt, keine föderalen Strukturen als Gegenpole, keine präsidiale Gewaltenteilung.
Der einzige Gegenpol zur Regierung ist das Oberste Gericht. Genau deshalb steht es im Fadenkreuz der in Teilen rechtsextremen Regierungskoalition, die seine Befugnisse beschneiden will. Die sogenannte Justizreform, die Ministerpräsident Netanyahu und sein Justizminister Yariv Levin seit Januar 2023 vorangetrieben haben, war de facto ein Versuch, das Gericht zu entmachten und Netanyahu angesichts seines laufenden Prozesses juristisch abzusichern.
Diese Konzentration politischer Macht geht einher mit einer Parteienlandschaft, die durch ihre radikale Zersplitterung seit Jahrzehnten für chronische Instabilität sorgt, begünstigt durch Israels Wahlsystem. Die Knesset wird nur nach dem Proporzprinzip gewählt, es gibt nur einen Wahlkreis – das ganze Land –, dazu eine sehr niedrige Sperrklausel von derzeit 3,25 Prozent.
So können auch kleine, teilweise sektiererische Parteien ins Parlament einziehen. Darunter befinden sich nationalreligiöse Gruppierungen, arabische Minderheitenparteien oder ultraorthodoxe Listen. Sie alle eint, dass sie monothematisch sind. Grosse, strategische Politik ist ihre Sache nicht. Derzeit sitzen zehn Fraktionen in der Knesset, im Vergleich zu früheren Parlamenten ist das fast schon eine niedrige Zahl.
Das «Parteienhopping» ist die Regel, nicht die AusnahmeDiese politische Fragmentierung erzwingt Koalitionsregierungen, in denen oft vier, fünf oder noch mehr Parteien sitzen. Koalitionsverhandlungen sind ein einziges Feilschen, bei dem es fast nie um politische Inhalte geht, sondern um rein taktische Erwägungen. Die Formulierung einer langfristigen Politik gibt es schon lange nicht mehr, weil sich die Parteien kaum noch über Inhalte definieren, sondern fast nur noch über die Machtinteressen des jeweiligen gesellschaftlichen Sektors, den sie vertreten.
So wechseln sie denn auch zuweilen opportunistisch die Seiten, was dazu führt, dass auch die traditionellen Parteien allmählich ihr ideologisches Profil verlieren. Das geht häufig Hand in Hand mit der Vorliebe vieler israelischer Politiker, eigene Parteien zu gründen, sobald sie merken, dass sie sich in ihren gegenwärtigen Parteien nicht durchsetzen können und nur die Nummer zwei sind.
Gerade in diesen Tagen konnte man dies wieder beobachten. Der frühere Generalstabschef Gadi Eisenkot verliess die Partei von Benny Gantz, weil er mit diesem nicht mehr übereinstimmte und nicht an der Spitze stand. Er will nun möglicherweise eine eigene Partei gründen.
Für solch ein egoistisches «Parteienhopping» gibt es auch in der Vergangenheit zahlreiche Beispiele. Ariel Sharon, einer der prominentesten Politiker der israelischen Geschichte, verliess 2005 den Likud, nachdem dieser seinen Gaza-Rückzugsplan nicht mitgetragen hatte, und gründete die Partei Kadima. Sie wurde rasch stärkste Kraft in Israel, nur um dann sang- und klanglos zu verschwinden.
Fleckenteppich aus Parteien ohne LeitlinieShimon Peres, jahrzehntelang in der Arbeitspartei, war am Ende seines politischen Lebens auch zu Kadima übergewechselt, die eher Mitte-rechts zu verorten war. Auch Tzipi Livni, einst Justiz- und Aussenministerin, war vom Likud zu Kadima gewechselt und gründete schliesslich ihre eigene Partei Hatnua, die es inzwischen auch nicht mehr gibt. Ehud Barak, ehemaliger Ministerpräsident und Verteidigungsminister, gründete gleich mehrfach neue Parteien oder schloss sich neuen Bündnissen an, die am Ende keine Chance hatten, in die Knesset zu kommen.
Noch plastischer wird das Bild bei Benny Gantz, der 2019 als ehemaliger Generalstabschef als grosser Hoffnungsträger der Anti-Netanyahu-Front galt. Er gründete die Partei Chosen Le’Yisrael, die Teil des Bündnisses Kachol Lavan wurde. Nach dem Wahlerfolg und einem scheinbar unversöhnlichen Wahlkampf gegen Netanyahu trat er dennoch in dessen Regierung ein, offiziell, um in Zeiten von Covid die nationale Einheit zu stärken. Diesen radikalen Positionswechsel bezahlte Gantz mit seiner eigenen Glaubwürdigkeit. Bis heute. Gantz laviert ständig zwischen neuen Parteinamen und wechselnden politischen Haltungen.
Auch Yair Lapid, Gründer der Partei Yesh Atid und im Augenblick Oppositionsführer, hat seine politischen Positionen mehrfach neu «justiert», um sich wechselnden Bedürfnissen anzupassen.
Die Politiker selbst dürften das wohl «Flexibilität» nennen, doch in den Augen der Wähler ist es eher ideologische Beliebigkeit. Was Parteien in Israel ausmacht, sind die Persönlichkeiten an ihrer Spitze, nicht ihre Programme. Die meisten Parteien sind Wahlvereine geworden, und sobald die Popularität ihres jeweiligen Spitzenkandidaten verblasst, verschwinden sie von der Bildfläche. Der israelische Wähler sieht sich somit regelmässig vor einem Flickenteppich aus Parteien ohne erkennbare Leitlinien.
Ein dysfunktionales SystemEine ganz eigene Rolle haben die extrem einflussreichen ultraorthodoxen Parteien wie Shas oder UTJ. Obwohl sie nur einen Bruchteil der Bevölkerung repräsentieren, sichern sie sich durch ihre strategische Koalitionsfähigkeit überproportionalen Einfluss. In fast allen Regierungen der vergangenen dreissig Jahre spielten sie eine Rolle. Sie sind meistens die «Königmacher». Und das lassen sie sich bezahlen, indem sie ihre religiösen Interessen durchsetzen, etwa Subventionen für ihre Religionsschule oder Ausnahmeregelungen für die Wehrpflicht oder ihren Monopolanspruch auf Eheschliessungen und Konversionen.
Die religiösen Parteien sind keine konstruktive politische Kraft, ihr Hauptziel sind der Erhalt staatlicher Subventionen für ihre Wählerschaft und die Absicherung religiöser Privilegien. Chancengleichheit, gesellschaftliche Integration oder gar liberale Werte sind ihre Sache nicht. Besonders Benjamin Netanyahu hat sich ihre Unterstützung immer wieder gesichert, indem er ihre Forderungen weitgehend erfüllte. Diese systemische Unwucht erschwert jede gesellschaftliche oder religiöse Reform – und sie vertieft die Spaltung der Gesellschaft in säkular-liberale und nationalistisch-religiöse Lager.
Hinzu kommt das Versagen der Opposition, der es nicht gelingt, eine glaubwürdige, gemeinsame Alternative zu Netanyahu zu schaffen. Persönliche Eitelkeiten, konkurrierende Parteien und taktische Winkelzüge verhindern eine einheitliche Front gegen Benjamin Netanyahu. Selbst in der kurzen Phase der sogenannten «Regierung des Wandels» unter Naftali Bennett und Yair Lapid (2021–2022), in der erstmals auch eine arabische Partei Teil der Regierung war, dominierten die Spannungen innerhalb der Koalition. Der einzige gemeinsame Nenner war ihre tiefe Abneigung gegen Benjamin Netanyahu, die Chance, die sich ihnen bot, nach damals zwölf Jahren Netanyahu eine alternative und neue Politik durchzusetzen, wurde vertan aufgrund kleinteiligster Streitereien.
Die Folge dieses dysfunktionalen Systems ist – wie in anderen liberalen Staaten auch – eine Demokratie auf dem Rückzug. Immer mehr Israeli verlieren das Vertrauen in das politische System, was immer wieder auch Umfragen bestätigen. Die Proteste gegen die Justizreform 2023 zeigten zwar die Kraft der Zivilgesellschaft, aber auch, wie sehr die institutionellen Schutzmechanismen bereits geschwächt sind. Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Justiz, all das steht in Israel längst zur Disposition.
Israel braucht eine geschriebene VerfassungDoch würde sich etwas ändern, wenn Benjamin Netanyahu die nächsten Wahlen verlöre oder sich gar freiwillig aus dem politischen Leben zurückzöge? Gewiss, ein neuer Ministerpräsident, der mit grosser Sicherheit ein «Rechter» sein wird, dürfte eine neue politische Atmosphäre mit sich bringen und wohl auch die illiberale Justizreform stoppen. Aber die Probleme des israelischen Staates blieben, und man darf daran zweifeln, dass eine neue Regierung in der Lage wäre, daran etwas zu ändern.
Denn es braucht tiefgreifende Reformen: eine geschriebene Verfassung mit klaren Grundrechten und garantierter Gewaltenteilung, eine Reform des Wahlsystems mit einer höheren Sperrklausel, eine gesetzliche Regelung zur Amtsunfähigkeit von angeklagten Politikern, die Trennung von Religion und Staat und vieles mehr.
Doch auch nach Netanyahu wird es einen parteiübergreifenden Konsens dafür nicht geben. Somit wird es selbst in einer Post-Netanyahu-Ära keine Veränderung der politischen Kultur geben. Diese werden erst kommen, wenn die Israeli begreifen, dass ihre innenpolitische Schwäche die Zukunft des Staates Israel mehr gefährdet als alle Feinde von aussen.
nzz.ch