Dieser Mann hat den frustrierendsten Job Deutschlands: Er zeigt, wo der Staat überall Geld verschleudert

Reiner Holznagel listet als Präsident des Bundes der Steuerzahler die absurdesten Staatsprojekte Deutschlands auf. Das ist die Geschichte eines Mannes, der kein Wutbürger sein will – und eines Landes, das sich von seinen Idealen entfernt.
Bernd Von Jutrczenka / DPA
Reiner Holznagel hat eine zermürbende Aufgabe. Er muss sich jeden Tag ärgern, immer wieder aufs Neue, vollberuflich. Und zwar über die Verschwendung von Steuergeldern in Deutschland. Als Präsident des Bundes der Steuerzahler schaut der 49-Jährige genau hin, wie, wo und mit welchen – oft haarsträubenden – Begründungen der Staat das Geld seiner Bürger vergeudet.
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Die Arbeit geht Holznagel nicht aus. So veröffentlicht seine Organisation schon seit 53 Jahren ein sogenanntes Schwarzbuch. Darin werden jeden Herbst hundert besonders ärgerliche und mitunter groteske Fälle von Verschwendung aufgelistet. Das reicht von einer in Radeburg stehenden Brücke, zu der keine Strasse führt, über einen millionenteuren Grillplatz im Westerwald bis hin zu Rotlicht-Containern in Trier, die noch nie von Prostituierten benutzt worden sind.
Kaum sind die Fälle in Buchform abgedruckt, beginnt schon wieder das Sammeln und Dokumentieren neuer Verschwendungen. Man kann sich Holznagel deshalb als modernen Sisyphos vorstellen: Er arbeitet ständig Finanzskandale ab – nur um festzustellen, dass ständig neue dazukommen. Dem Besucher rät er deshalb: «Wenn Sie abends schlecht schlafen, dann sollten Sie nicht unser Schwarzbuch lesen.»
Wer im Berliner Regierungsviertel den Hauptsitz des Bundes der Steuerzahler besucht, erblickt beim Eingang zunächst eine Tafel mit einer rot leuchtenden Zahl. Es ist die Schuldenuhr – sie zeigt an, wie tief der deutsche Staat gerade im Minus ist. 2 600 833 744 138 Euro steht da. Eine Sekunde später ist die Zahl schon 5094 Euro höher.
Kritik am XL-BundestagFünf Stockwerke über diesem Mahnmal, von Reiner Holznagels Büro aus, sieht man direkt dorthin, von wo die Uhr massgeblich ihren Antrieb erhält: ins Bundeskanzleramt. Dort haust seit Mai Friedrich Merz, ein Politiker, der sich im Wahlkampf noch als sparfreudig präsentiert hatte. Kurz nach der Wahl hebelte er aber die Schuldenbremse aus und ebnete den Weg für die Schnürung eines riesigen Schuldenpakets.
Wie zuversichtlich ist Holznagel, dass unter Merz die Verschwendung von Steuergeld zurückgehen wird? «Ich zwinge mich zu Zuversicht», sagt er zweideutig – und fügt an: «Es wäre ein starkes Signal gewesen, wenn Merz ein Kabinett berufen hätte, das nur 10 statt 16 Ministerien zählt und auch deutlich weniger als 38 Parlamentarische Staatssekretäre. Dieses Signal blieb aus.»
Vielmehr erweitert das Kanzleramt derzeit seinen Sitz für mindestens 800 Millionen Euro um 400 Büros. «Wir bauen die grösste Regierungszentrale der Welt, leisten uns einen teuren XXL-Bundestag mit 630 Abgeordneten und blähen weiterhin die öffentliche Verwaltung auf.» Die neue Regierung sei deshalb kein gutes Beispiel für das, was Deutschland dringend brauche: «Reformen, aber auch Einschnitte und Amputationen.»
«Wir wollen Steuern zahlen»Das klingt sehr staatskritisch. Holznagel hört denn auch oft den Vorwurf, seine Organisation sei gegen den Staat. Dagegen wehrt er sich. «Wir sind der Bund der Steuerzahler. Das heisst: Wir zahlen Steuern und wollen das auch – damit der Staat funktioniert. Das ist unser Bekenntnis.» Mit Libertären, die Steuern als Raub betrachten, kann er nichts anfangen.
Den Bund der Steuerzahler gibt es seit 1949. Gegründet wurde er im sparsamen Schwabenland, in Stuttgart. Damals war die Steuerlast immens, gleichzeitig hielt der Staat seine Haushaltpläne geheim. Gegen solche Geheimniskrämerei wehrte sich der gemeinnützige und politisch unabhängige Verein. Heute ist er in 15 eigenständigen Landesverbänden organisiert, finanziert durch rund 200 000 Mitglieder und Spender.
Mit diesem Flugblatt wurde 1949 in Stuttgart zur Gründung des Bundes der Steuerzahler aufgerufen. PD
Holznagels Weg zum Bund der Steuerzahler war nicht vorgespurt. Der im ostdeutschen Mecklenburg-Vorpommern geborene Politologe hatte mit Steuern nichts am Hut, als er 2003 dort zu arbeiten begann. Er brauchte den Job, um sich sein Doktorstudium zu finanzieren. Nun ist er schon 22 Jahre bei der Organisation, die vergangenen 13 als Präsident.
Fernsehshow mit Mario BarthHolznagel bezeichnet sich als Autodidakt in Steuerfragen. Dies im Unterschied zu seiner Frau, einer Steueranwältin, von der er viel gelernt habe. Dass er anfänglich nur wenig über Steuern wusste, sei ein Vorteil gewesen, auch für seinen Arbeitgeber: «Ich musste viel fragen, was zeigt, dass im Steuerwesen nichts selbsterklärend ist.» So habe er gelernt, komplexe Dinge auf eine Weise zu erklären, dass jeder sie verstehe.
Dieses Talent zeigt sich auch in seinen Fernsehauftritten. So ist der oberste Steuerzahler vielen Deutschen vor allem aufgrund der RTL-Show «Mario Barth deckt auf» bekannt. In dieser Show geht es, ähnlich wie im Schwarzbuch, um die Verschwendung von Steuergeld, jedoch in satirischer und zugespitzter Form. Holznagel tritt dabei als Experte auf, der die Hintergrundinformationen der präsentierten Fälle liefert.
Ist sein Auftritt in der Show – unentgeltlich, wie er betont – vor allem der eigenen Eitelkeit geschuldet? Oder bringt das auch dem Bund der Steuerzahler etwas? Holznagel sagt: «Mit dieser Comedy-Show erreichen wir breitere Bevölkerungsgruppen als je zuvor. Das Verschwenden von Steuergeld war früher für viele Haushalte kein Thema. Nun diskutieren sie bei Chips und Bier darüber. Das schärft das Problembewusstsein.»
41 000 Euro für vier FledermäuseIn der Show wird Geldverschwendung sehr unterhaltsam – Kritiker sagen: populistisch – präsentiert. Holznagel sieht darin kein Problem: «Es gibt zwei Möglichkeiten, mit dem Thema umzugehen: Man endet in Frustration, oder man lacht – und lässt daraus etwas Konstruktives entstehen.» Er habe sich für Letzteres entschieden. «Unterhaltung und Aufklärung schliessen sich nicht aus. Populär ist nicht negativ.»
Tatsächlich gibt es viel zu lachen, wenn Holznagel zu erzählen beginnt. Da ist etwa die Geschichte der Haselmaus von Vilshofen. Weil deren Lebensraum durch eine Strasse durchschnitten wurde, baute man für 93 000 Euro eine 7 Meter hohe und 20 Meter lange Haselmausbrücke. In vier Jahren hat aber noch keine einzige Maus die Brücke benutzt. Daran änderte auch eine buschige und 7000 Euro teure Einstiegshilfe nichts.
Oder die Geschichte der vier Zwergfledermäuse in Kirchberg an der Murr. Diese nutzen eine alte Halle, die abgerissen werden soll, als Unterschlupf. Für die vier Fledermäuse erstellte die Gemeinde 22 neue Unterkünfte, für 20 000 Euro. Hinzu kommen weitere 21 000 Euro für ein fünfjähriges Monitoring, um herauszufinden, ob die neuen Ersatzquartiere tatsächlich angeflogen werden. Das verzögert den Abbruch der Halle um Jahre.
Die «glorreichen Drei»Über solche Fälle mag man schmunzeln, da ihre Kosten überschaubar sind. Anders ist es bei den «glorreichen Drei». So nennt Holznagel die drei bekanntesten Beispiele öffentlicher Fehlkalkulation der vergangenen Jahre: das Chaos beim Bau des Flughafens Berlin-Brandenburg, das nicht enden wollende Städtebau- und Verkehrsprojekt «Stuttgart 21» und die Kostenexplosion bei der Hamburger Elbphilharmonie.
Die drei Fälle haben den Steuerzahler nicht nur viel Geld gekostet. Sie haben laut Holznagel auch zu einer Erosion der Steuermoral beigetragen, da sie sich in die Erinnerung einbrannten als Belege einer sorglosen Ausgabenpolitik. Eine zersetzende Wirkung auf die Steuermoral hatten seiner Meinung nach auch die 2010 bis 2013 aufgekauften Steuer-CD mit Daten zu Schwarzgeldkonti im Ausland, etwa in der Schweiz.
Jüngeren Datums ist das Scheitern des Batterieherstellers Northvolt im März. Die Ampelregierung sprach bei dessen Bau noch von einem Leuchtturmprojekt und bürgte zusammen mit Schleswig-Holstein für einen 600-Millionen-Euro-Kredit. Der industriepolitische Eifer des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck wog schwerer als Studien, welche die Wirtschaftlichkeit des Projektes bezweifelten. Die Folge: Aus dem Leuchtturm wurde eine Investitionsruine.
Wiederkehrende Muster der VerschwendungAngesichts der jahrzehntelangen Erfahrung mit Geldverschwendung: Holznagel erkennt ein Muster, das Misswirtschaft besonders begünstigt. «Die Mutter aller Verschwendungen ist die Mischfinanzierung», sagt er. Wenn mehrere Ebenen des Staats ein Projekt finanzieren, verliert sich Verantwortung. Das ist auch der Fall, wenn derjenige, der ein Projekt finanziert, nicht identisch ist mit dem, der es umsetzt.
Holznagel erklärt es so: «Stellen Sie sich vor, Sie gehen zu Ikea, und ich verspreche Ihnen, 70 Prozent Ihrer Einkaufskosten zu tragen. Dann werden Sie wohl auch das eine oder andere Möbelstück kaufen, das Sie gar nicht brauchen.» Genau so laufe es in der Politik: Wenn zum Beispiel Bund, Länder und teilweise auch die EU ein kommunales Projekt mitfinanzierten, bleibe oft nur noch ein Eigenanteil von 10 bis 20 Prozent. «Das ist eine Einladung zu wirtschaftlichem Unfug.»
Ähnlich gefährlich sei das wachsende Anspruchsdenken seit der Corona-Pandemie. Damals hätten die Bürger einen Staat erlebt, der Säcke voller Geld über der Bevölkerung niederregnen liess. Daran gewöhne man sich, und es entstehe die Erwartung, dass der Staat genug Geld für alles habe, etwa für das massiv subventionierte Deutschlandticket im Bahnverkehr oder Gratis-Kitas selbst für Gutverdiener. «Es geht der Gedanke verloren, dass eine staatliche Mehrleistung auch ein gewisses Entgelt erfordert.»
Plumpe Missbräuche werden seltenerDennoch, Holznagel hat den Optimismus nicht verloren. Ein Grund: Besonders dreiste Missbräuche seien seltener geworden: Dienstwagen-Affären – «also den Dienstwagen in den Urlaub nachkommen lassen, der dann auch noch geklaut wird, so dass ein neues Auto vonnöten ist» –, stets die Flugbereitschaft nutzen oder das Abgeordneten-Spesenkonto kurz vor Weihnachten für den Kauf eines Mont-Blanc-Füllers aufzubrauchen: Solche oder ähnliche Dinge kämen kaum noch vor.
Dem Schwarzbuch angefügt ist denn auch ein Kapitel über die Erfolge. So sehen sich staatliche Stellen aufgrund des Bundes der Steuerzahler immer wieder zu grösserer Sparsamkeit veranlasst. Eine Quelle beruflicher Freude ist für Holznagel aber noch etwas anderes: «Sie ahnen gar nicht, wie viel man hier jeden Tag lernt. Nicht nur über Finanzen und Bauten – sondern auch über Fauna, Flora und Zwergfledermäuse.»
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