Kann sich die Schweiz nun entfesseln und ihr Frauenteam verehren?


Sports Press Photo / Getty
Das Dach des Stade de Genève schien wegzufliegen, und mehr als 25 000 Fans sprangen höher als der Jet d’Eau. Riola Xhemaili hatte der Schweiz soeben die Haut gerettet. Es fühlte sich an wie eine sehr bedeutende Episode in der Fussballgeschichte.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Nun muss die Schweiz bis am Freitag auf ihren Viertelfinal warten. Für eine Europameisterschaft ist das eine lange Zeit, aber sie kann nicht schaden dabei, die Festlaune zu steigern. Eine reibungslos verlaufende Veranstaltung geht mit flackernden Erwartungen in die zweite Halbzeit.
Es gibt viel Schönes an einem von der Schweiz ausgerichteten Turnier. Ein glühender mitteleuropäischer Sommer hat das Gefühl von Eskapismus verstärkt. Wenn die Fans, die nach Bern kamen, sich mit den Einheimischen in der Aare treiben lassen wollten, konnte ihnen dieser Wunsch erfüllt werden; die Rundfahrt mit dem Schiff auf dem Vierwaldstättersee wurde bereits von Fans aus Schweden, Wales und den Niederlanden rege genutzt.
Das sind Nebensächlichkeiten: Für die Uefa und alle anderen, die ein Interesse am Frauenfussball haben, ist es wichtig, dass die sportlichen und organisatorischen Faktoren zufriedenstellend verlaufen. Als die Schweiz den Zuschlag für das Turnier erhielt, ging ein Raunen durch die Menge, vor allem unter Journalisten und Fans aus Ländern wie England, Deutschland oder Spanien, deren heimische Ligen heute regelmässig grosse Zuschauerzahlen aufweisen.
Die Befürchtung war, dass die Wahl nicht ehrgeizig genug war: Oberflächlich betrachtet, ist es offensichtlich, dass der St.-Jakob-Park, in dem der Final stattfinden wird, weit weniger als die Hälfte der Fans und Würdenträger, die beim Finalspiel 2022 im Wembley-Stadion waren, beherbergen wird.
Im unersättlichen Streben nach Wachstum wurde dies als problematisch angesehen. Aber das Gesamtbild war etwas subtiler. Der Autor erinnert sich, wie Erling Haaland bei seinem Wechsel zu Manchester City während der Euro 2022 im Etihad-Stadion vorgestellt wurde, bevor er die fünf Minuten über eine Brücke lief, um das Spiel der Frauen-EM Belgien gegen Island zu sehen.
Schauplatz war das winzige Stadion der City-Akademie in Manchester, die Zuschauerzahl lag unter 4000, die Atmosphäre war völlig steril. Während der Frauenfussball zu Recht die grossen Erfolge feiert, hatte man nicht den Eindruck, einen vernünftigen Mittelweg gefunden zu haben.
Das war das Hauptargument der Uefa und auch der Einheimischen, als die Party in die Schweiz vergeben wurde. Zuverlässig gefüllte Stadien seien ein besseres Zeichen des Fortschritts, hiess es. Bis zum 11. Juli lag die kleinste Zuschauerzahl in Thun noch bei über 7500. Der Zuschauerrekord in der Gruppenphase für Spiele, an denen nicht das Gastgeberland beteiligt war, wurde gebrochen, als die Weltmeisterinnen aus Spanien im Stadion Wankdorf auf Portugal trafen.
Fast 30 000 sahen zu, wie Spanien eine Lehrstunde erteilte. In England wurde diese Zahl während des gesamten Turniers von keinem Spiel erreicht, in dem nicht die Gastgeberinnen auf dem Platz standen.
Die Ticketverkäufe sind eine Sache, leere Plätze eine andere, und die Uefa hat sich gefreut, dass es kaum solche gab. Hochrangige Persönlichkeiten hatten sich im Vorfeld der Euro 2025 gefragt, ob die günstigen Ticket-Preise nicht nach hinten losgehen könnten. Das hat sich nicht bewahrheitet.
Imago / Mathias Bergeld / www.imago-images.de
Die Stadien waren voll, für das Fernsehspektakel besonders wichtig. Die kompakte Bauweise von mittelgrossen Arenen wie dem Stadion in Luzern hat dazu beigetragen, dass es im Kessel laut wurde und Spiele wie der Sieg Schwedens gegen Polen von einer besonderen Atmosphäre geprägt waren.
Die Stadien zu füllen und jedes Spiel zu einem eigenen Universum zu machen, ist wohl die wichtigste Herausforderung für einen Dachverband bei einem Grossereignis: Für einige war es der grösste Triumph der Uefa an der Euro 2024 der Männer, die Allianz-Arena für das vergleichsweise unattraktive Spiel zwischen Slowenien und Serbien zu füllen.
Zurückhaltend, nicht einschüchterndEs hilft, dass die Schweiz, anders als England oder das heutige Deutschland, einfach und relativ angenehm zu bereisen ist. Es gab keine Störungen wie bei der Deutschen Bahn, die im letzten Sommer für negative Schlagzeilen sorgte, und schon gar nicht die verworrenen Preis-Pläne, die selbst regelmässige Nutzer des englischen Bahnsystems überfordern.
Trams und Busse in den Städten funktionieren narrensicher; pünktlich zum Stadion zu kommen, war die geringste Sorge, und die Sicherheit war zwar allgegenwärtig, aber nicht übermächtig. Der allgemeine Ton war vernünftig: zurückhaltend, nicht einschüchternd oder bedrückend.
Kann sich die Schweiz nun frei machen und ihr Frauenteam verehren? Vor drei Jahren brauchte England keine Einladung, um sich der Hysterie um die «Lionesses» hinzugeben. Vielleicht liegt es an der schieren Grösse und Geschichte Englands, dass der Mythos um grosse Fussballturniere ein wenig tiefer sitzt in Grossbritannien, in England die Höhen schwindelerregend und die Tiefen abgrundtief sind.
Nach dem Auftaktsieg im Old Trafford vor fast 70 000 Zuschauern liess England nicht mehr locker, und als das Team in Wembley ankam, hatte die Stimmung bereits gewaltige Ausmasse erreicht. In gewissem Sinne war das Spielfeld durch den stetigen Aufstieg des englischen Teams und des Sports im Allgemeinen in den letzten zehn Jahren bereits ausgewalzt worden. Im Kader der Trainerin Sarina Wiegman standen bereits bekannte Namen.
Im St.-Jakob-Park war nach der unverdienten und vermeidbaren Auftaktniederlage gegen Norwegen zu spüren, dass viele Schweizerinnen eine gewisse Leichtigkeit bewahrt hatten. Freunde und Familienangehörige der Spielerinnen hielten sich noch lange nach Spiel-Ende auf der Tribüne auf. Lange Gesichter waren Mangelware; natürlich ist es nicht gesund, sich in einer Niederlage zu suhlen, aber das vorherrschende Gefühl war die Freude darüber, Teil eines solch historischen, lebhaften Ereignisses zu sein.
Jean-Christophe Bott / Keystone
Vielleicht änderte sich etwas am Donnerstagabend in Genf, wo die Atmosphäre drängender und intensiver war als bei allen anderen Spielen dieses Sommers. Die Aussicht auf eine Niederlage schien eine echte Katastrophe zu sein, die Anspannung war spürbar, und die Nerven lagen blank. Riola Xhemaili bescherte allen, ob Schweizern oder neutralen Zuschauern, einen dramatischen Moment des Turniers, der seinesgleichen sucht.
Nick Ames ist European Sports Correspondent der Britischen Tageszeitung «The Guardian».
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
nzz.ch