Die Vermarktung gleicht einem Flickenteppich – trotzdem wehrt sich der Radsport gegen Reformen


Sommer 2024 in einem Hotel in den Alpen. Jonathan Vaughters steht unter Druck. Vaughters ist der Chef des Veloteams EF Education-Easy Post und hat ein Problem: Seiner Equipe fehlt ein Etappensieg an der Tour de France. Vor allem in den Bergen erfüllt sie die Erwartungen nicht. Ein Geschäftsleitungsmitglied des Hauptsponsors EF Education macht seinem Ärger deshalb in einer Besprechung Luft und erteilt dem Teamchef eine Standpauke.
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Der Sponsor zeigt seine Unzufriedenheit offen, droht unverblümt mit personellen Massnahmen. Schliesslich habe er den Captain Richard Carapaz, den Olympiasieger von 2021 und Gewinner des Giro d’Italia 2019, für teures Geld verpflichtet. Bleibe der Erfolg aus, könnten Mitarbeiter ihren Job verlieren.
Diese Szene stammt aus der dritten Staffel der Netflix-Serie «Unchained». Die Filmemacher begleiteten Teams und Fahrer während der letzten drei Ausgaben der Tour de France und produzierten drei Staffeln mit je acht Folgen. Die Serie gewährt Einblicke in das Innenleben des Pelotons bei der wichtigsten Rundfahrt des Jahres – ein Leckerbissen für Radsportfans.
In der Formel 1 funktioniert das Format mit «Drive to Survive»Doch das Hauptziel hat «Unchained» verfehlt: Netflix wollte in Frankreich mehr Abonnenten gewinnen und den Radsport einem neuen Publikum näherbringen. Die Zugriffszahlen blieben so enttäuschend, dass der Streaming-Dienst keine weiteren Dreharbeiten bei der laufenden Tour plante. Die dritte Staffel wird die letzte sein. Netflix spart die rund 8 Millionen Euro Produktionskosten pro Staffel.
Sportdokumentationen wie «Unchained» hat es in letzter Zeit eine Vielzahl gegeben. Am erfolgreichsten war «Drive to Survive» aus der Formel 1. Die Königsklasse des Motorsports hat es dank der Serie geschafft, ein jüngeres und vor allem weibliches Publikum anzuziehen. Das schaut mittlerweile nicht nur die Netflix-Serie, sondern auch die Rennen.
Die Narrative von «Unchained» und «Drive to Survive» ähneln sich. Es geht um Duelle, Teamdynamik, Emotionen – von Jubel über Schmerz bis Frust. Doch warum hat der Radsport nicht die gleiche Aufmerksamkeit erlangt?
Christian Lang ist Professor für Sportmarketing an der Universität St. Gallen und sagt: «Die Formel 1 bietet eine perfekte Vorlage für eine Dokumentation. Es gibt klar definierte Teams, Fahrerduelle und eine nachvollziehbare Saisonstruktur.» Der Radsport ist hingegen zersplittert. Es gibt viele verschiedene Rennen: Classiques und andere Eintagesrennen, dazu grosse und kleine Rundfahrten. Ausserdem wechselnde Formate: Bergetappen, Sprintetappen, Zeitfahren. Und für jedes Format andere Spezialisten. Anders als in der Formel 1 fehlt ein saisonübergreifendes Duell um einen grossen Titel.
Billy Ceusters / A.S.O. / Netflix
«Die Taktiken und Wettkämpfe sind für einen Laien komplex. Das erschwert es, ein zentrales Narrativ zu finden», sagt Lang. Ausserdem seien die Rennen für das Live-TV zu langatmig. «Sportarten, die sich gut in kurze, zugespitzte Geschichten pressen lassen, haben in der heutigen Medienwelt einen Vorteil», sagt Lang.
Netflix versuchte zwar, das Duell von Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar um den Tour-Sieg in den Fokus zu rücken. Doch wegen unterschiedlicher Saisonplanungen treffen die Granden fast nur an der Tour de France aufeinander. Zu wenig, um permanent eine Rivalität zu inszenieren.
Das grössere Problem liegt laut Lang allerdings in der Vermarktung. Er sagt: «‹Unchained› ist handwerklich gut gemacht. Aber dem Radsport fehlt ein System, das aus Storytelling Wachstum generiert.» Es gebe keine zentrale Organisation, die strategisch in die Vermarktung eingreife. Während Liberty Media in der Formel 1 alles steuert – vom Rennkalender über TV-Rechte bis zur Vergabe der Austragungsorte –, gleicht der Radsport einem Flickenteppich.
Der grösste Akteur ist die Amaury Sport Organisation (ASO). Das französische Familienunternehmen dominiert den Markt mit der Tour de France, der Vuelta und Klassikern wie Paris–Roubaix oder Lüttich–Bastogne–Lüttich. Der Giro d’Italia und andere italienische Rennen gehören zur RCS Sport, während belgische Rennen wie die Flandern-Rundfahrt wieder andere Veranstalter haben. Hinzu kommt der Weltverband UCI, der jährlich Weltmeisterschaften organisiert. Eine einheitliche Vermarktung? Fehlanzeige.
Ralph Denk ist Teammanager bei der deutschen Equipe Red Bull-Bora-Hansgrohe. In der Szene gilt er als innovativer Kopf. Er sagte zum Aus der Netflix-Serie in einer Medienrunde wenige Wochen vor dem Tour-Start: «Ich finde das schade. Irgendwo muss das Geld herkommen, doch dafür brauchen wir eine grössere Reichweite.» Anders als in der Formel 1 partizipieren Velomannschaften nicht am Gewinn der Organisatoren grosser Rennen.
Die Equipen sind deshalb fast vollständig von den Sponsoren abhängig. Die setzen wie bei EF Education-Easy Post Druck auf, wenn Spitzenresultate ausbleiben. Konkrete Zahlen veröffentlichen die Mannschaften nicht. Die «Gazzetta dello Sport» schätzt, dass die 18 Equipen der World Tour über ein Gesamtbudget von 570 Millionen Euro pro Jahr verfügen, das sind im Durchschnitt 32 Millionen pro Team. Davon stammen etwa 95 Prozent von Sponsoren.
Bei manchen Teams macht sich Unmut über die Vermarktung breitOb sich daran bald etwas ändert, bleibt fraglich. Der Radsport ist traditionsverhaftet und oft reformresistent. Für die ASO ergibt das Sinn: Branchenkenner schätzen, dass sie mit der Tour de France jährlich 70 Millionen Euro Gewinn macht. Die Mannschaften gehen leer aus, sind aber auf die Bühne der Tour angewiesen.
Der Sportmarketing-Experte Lang sagt: «Veränderung bedeutet oft Machtverlust für die etablierten Akteure.» Der Radsport brauche mutige Entscheider und Visionen, um den Stillstand zu durchbrechen. Doch die ASO hat ein geringes Interesse an Reformen, und die UCI zeigt sich ebenfalls wenig kooperativ.
Wie rigoros der Weltverband Innovationen blockiert, zeigte sich vor wenigen Wochen. In einer kryptischen Pressemitteilung bremste die UCI den Vorstoss von acht World-Tour-Teams aus, eine zentral vermarktete Liga zu gründen und den Rennkalender zu strukturieren. Der Weltverband argumentierte, die Liga sei «sportlich nicht kohärent» und verstosse gegen «Governance-Regeln». Was das konkret heissen soll, liess er offen.
Der Radsport braucht eine RevolutionDas Projekt «One Cycling» sollte massgeblich vom saudischen Staatsfonds PIF finanziert werden, dem Vernehmen nach mit 250 Millionen Euro. Unter den beteiligten Mannschaften sind auch Spitzenteams wie Visma-Lease a Bike und Red Bull-Bora-Hansgrohe. Involviert ist auch die Veranstalterin der Flandern-Rundfahrt. Geplant ist ein Zusammenschluss etablierter und neuer Rennen, ergänzt durch hochklassige Wettkämpfe ausserhalb Europas.
Der Sportmarketing-Experte Lang sagt: «Ein Ligasystem mit garantierten Startplätzen und Beteiligung an den TV-Einnahmen könnte die Lösung sein.» Ende 2025 werden die World-Tour-Lizenzen neu vergeben und der Radsportkalender neu geordnet. Die Macher der «One Cycling League» hofften, dass das Projekt bereits im kommenden Jahr starten würde. Die UCI hat das verhindert. Vorerst.
Unter namhaften Teams macht sich nicht erst seit der jüngsten Konfrontation mit der UCI Unmut breit. Der Teammanager Denk sagte der «FAZ», es brauche eine Mischung aus Tradition und Revolution. Und: «Wir müssen uns überlegen, wie wir den Radsport für den Fan einfacher gestalten können.» Denk fordert eine Verschlankung des Kalenders, ein nachvollziehbares Fahrer-Ranking und dass die Besten öfter gegen die Besten fahren.
Um die Ära der chronischen Verluste zu durchbrechen, braucht der Radsport eine Revolution.
Charly Lopez / A.S.O. / Netflix
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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