CDU-Parteizentrale: Abteilung für supertolle Ideen


CDU-Generalsekretär Linnemann will aus dem Konrad-Adenauer-Haus eine moderne Denkfabrik machen. Aber hat die Partei so etwas nicht längst?
Wenn Carsten Linnemann einen im Konrad-Adenauer-Haus empfängt, dann will man sich schon im Foyer die Hemdsärmel hochrollen. Dass man nicht nur ihn für ein Interview angefragt hat, sondern auch andere aus der Parteizentrale: „Super!“ Dass man über Strategisches sprechen möchte statt nur über die Tagespolitik: „Toll!“ Machersprech kann der CDU-Generalsekretär, und erst recht die Macherattitüde.
Manchmal duzt er sein Gegenüber aus Versehen; in seinem großen Eckbüro steht, klar, ein Kickertisch. Hätte man sich Hermann Gröhe oder Ronald Pofalla beim Kurbeln vorstellen können, als gruppendynamisches Event während einer Sitzung zur Rentenreform? Eher nicht. In der Koalition droht aus dem „Herbst der Reformen“ ein Winter der verpassten Chancen zu werden, aber zumindest in der CDU-Zentrale scheint alles agil und dynamisch. Super eben.
Parteizentralen sind eigentlich gesichtslose Verwaltungsapparate; sie kümmern sich um die Mitglieder, bilden Gremien, verwalten die Finanzen, sind das Backoffice der Partei. Alles wichtig, aber nicht gerade aufregend. Linnemann will das ändern, die CDU zur modernsten Partei Deutschlands, ach was, Europas machen – und das Adenauer-Haus zu einem Thinktank. „An den Tellerrand gehen und darüber hinausblicken“, so nennt er das.

Das klingt schwungvoll, erfindungsreich, originell. Aber passt es auch zum Adenauer-Haus? Diesem eher traditionellen Ort, wo Angela Merkel dem damaligen Generalsekretär Hermann Gröhe nach ihrem Wahlsieg 2012 das Fähnchen wegriss, weil ihr das zu deutschtümelnd war. Wo Philipp Amthor Entbürokratisierungsbeauftragter ist. Kann da ein neumodischer Thinktank entstehen?
Auch ohne dieses Etikett wird in Parteien nachgedacht, gerade wenn sie an der Regierung sind – im Kanzleramt, in der Fraktion, der Parteizentrale, den parteinahen Stiftungen. Allein im Adenauer-Haus arbeiten mehr als 200 Menschen, die den ganzen Tag auf sechs Etagen über die Zukunft der CDU grübeln. Es gibt eine Abteilung für „strategische Planung“, eine für „Politik und Programm“ und eine für „Kampagne und Mobilisierung“ – eigentlich müsste die CDU-Zentrale schon jetzt ein Bienenschwarm sein, der vor Ideen nur so brummt.
In der Realität schlagen die Shitstorms und wahnwitzigen Großkrisen auch im Adenauer-Haus so schnell ein, dass man froh ist, einen einigermaßen klaren Gedanken fassen zu können. In der Regierung sei man „immer ein Stück weit von der Tagespolitik getrieben“, klagt Linnemann. Dabei bräuchten Politiker auch mal Zeit zum Denken, und zwar über die großen Linien unserer Zeit, nicht nur über Kompromisse beim vierten Bürokratieentlastungsgesetz.
Deshalb also der Thinktank, der im Organigramm jetzt sogar ein eigenes Kästchen hat, und damit ist man bei Leuten wie Ahmad Mansour. Mansour ist Psychologe und Extremismusforscher; als Sprecher des Netzwerkes „Integration und Chancen“ soll er dafür sorgen, dass die CDU bei dem Thema zu einer konsistenten Position findet.

Sieben solcher Netzwerke, die die CDU-Programmatik schärfen sollen, hat Linnemann im Sommer eingesetzt; zu Themen wie Integration, Sport, nationale Sicherheit und Wissenschaft. Es gibt auch 14 Bundesfachausschüsse, die ebenfalls „Expertengremien und Ideengeber“ sind. Bundesbildungsministerin Karin Prien leitet zum Beispiel den Bundesfachausschuss „Demokratieverständnis, neue Medien und Kultur“, der sich um einen besseren Medienschutz von Kindern und Jugendlichen kümmern soll.
In den Fachausschüssen bleibt die Partei aber eher unter sich; die Netzwerke sollen offener sein, näher an der Praxis. Sie sind auch der Versuch einer geschrumpften Volkspartei, wieder näher an das normale Leben heranzukommen. Abseits der Berliner Blase.
Mansour trifft sich in seinem Integrationsnetzwerk einmal monatlich mit anderen Wissenschaftlern, Bildungs- und Kommunalpolitikern. Manchmal kommen auch Lehrer, Sozialarbeiter und Integrationshelfer dazu, mal füllt er einen Saal mit hundert Leuten, mal sind sie nur zu dritt. Sie stellen sich Fragen: Wann gelingt Integration? Was benötigen Lehrer, Schulen und Kommunen? Wo muss man fördern – und wo fordern?
Mansour ist arabischer Israeli; ein streitbarer Mann, der nicht nur die Gegensätze des Nahostkonflikts in sich vereint, sondern auch die der deutschen Migrations- und Integrationspolitik. Viele Linke empört, was er über die Begrenzung der Migration und die Probleme bei der Integration denkt, aber er sagt auch Sätze, die CDU-Leuten sauer aufstoßen können. Zum Beispiel: „Ich möchte, dass die CDU in der Migrationspolitik liefert und nicht nur auf Parolen setzt.“ Mansour ist kein Parteimitglied, das lockert.
Als die CDU noch in der Opposition war, erarbeitete sein Netzwerk die Position, dass die CDU in ihrem Programm die doppelte Staatsbürgerschaft dulden soll. Den Wertkonservativen gefiel das nicht, aber um diese Offenheit geht es ihm. Auch jetzt, sagt Mansour, werde er sich nicht verbiegen. Er findet, dass gerade das in der Tagespolitik zu kurz kommt: offen zu sprechen, im geschützten Raum auch mal ungewöhnliche und klare Argumente zu wägen, ohne die nächste Wahl oder den nächsten Shitstorm fürchten zu müssen.
Das empfindet auch der Virologe Hendrik Streeck so, den viele noch kennen als erst gefeierten und später umstrittenen Fachmann in der Corona-Pandemie. Streeck sitzt mittlerweile für die CDU im Bundestag, er ist Drogenbeauftragter und leitet im Adenauer-Haus das „Netzwerk Wissenschaft“. Streeck ist für die CDU zu einer Art Multitool geworden. Als Linnemann ihn fragte, ob er das Netzwerk übernehmen wolle, musste er wegen der Mehrfachbelastung nachdenken. Dann sagte er zu.

Streeck sagt, die Pandemie habe gezeigt, wie dringend das Verhältnis von Politik und Wissenschaft erneuert werden müsse. „Politik braucht mehr Evidenz, mehr Offenheit in der Debatte und weniger Ideologie und Emotionalität.“ Mit seinem Netzwerk soll Streeck die Wissenschaftspolitik der CDU weiterentwickeln, von der Start-up-Kultur bis zur Forschungsförderung, und er will „die besten Köpfe nach Deutschland holen und hier halten“.
Das sind ziemlich wichtige, aber auch ziemlich vage Pläne, und vielleicht liegt es daran, dass Streeck wie Linnemann zu Anpackphrasen neigt. Dann spricht er von einer „innovationsgetriebenen Politik“, die das Land „wieder nach vorne bringen“ müsse; von der Optimierung des „wirtschaftlichen Outputs der Wissenschaft“ oder seinem Credo „Wissen schafft Wirtschaft“. Das klingt hemdsärmelig wie beim Generalsekretär, aber auch nach Flipcharts, und von denen stehen in der reformträgen Republik seit Jahren schon genug herum, Zitat Philipp Amthor: „Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit.“
Linnemanns Thinktank soll keine weitere Expertenkommission in Dauerschleife sein, die Thesenpapiere und Beschlussempfehlungen produziert, um sie dann in Ordnern abzuheften. „Im Gegenteil!“, sagt er und zählt auf, wie effizient alles ablaufen soll: Die Netzwerke und Bundesfachausschüsse arbeiten eigenständig, in einer übergeordneten „Steuerungsgruppe“ sollen „besonders vielversprechende Ergebnisse“ alle sechs bis acht Wochen „gepitcht“ werden.
Linnemann will Tempo machen, nicht nur beim Sprechen: Mit ersten Positionspapieren, die mit Friedrich Merz in den Parteigremien besprochen werden, rechnet er im Februar. Danach sollen sie im besten Fall als Anträge auf Parteitagen eingebracht und schließlich zur CDU-Linie werden.
Vorausgesetzt, sie werden bis dahin nicht zerredet – oder abgebügelt. So hat es Peter Tauber oft erlebt, der Generalsekretär unter Angela Merkel war. Tauber sagt, die „Lust am intellektuellen Diskurs“, der keinen medialen Mehrwert habe, sei bei vielen Politikern nicht sehr ausgeprägt. In der Regierung sei programmatische Grundsatzarbeit fast unmöglich, weil Regierungschefs in der Regel wenig Interesse daran haben, kluge Ratschläge aus der eigenen Parteizentrale zu bekommen. So sei das Rollenverständnis jedenfalls bei Angela Merkel und ihm gewesen: „Ich habe die Partei so gemanagt, dass ich ihr nicht noch zusätzliche Probleme mache.“
Linnemann sagt, bei Merz und ihm sei das völlig anders, und er hat sich dafür eine griffige Schlagzeile überlegt: „Das Konrad-Adenauer-Haus ist nicht nur Begleitband des Kanzleramts, wir schreiben eigene Hits.“ Das sehe auch Merz so. Neulich, bei der Stromsteuer, wurde die Harmonie auf die Probe gestellt. Die Regierung will die Steuer jetzt doch nicht für alle senken, obwohl es die CDU im Koalitionsvertrag so mit der SPD vereinbart hat.
Linnemann beschwerte sich öffentlich, danach wurde schon über ein Zerwürfnis zwischen Merz und seinem Generalsekretär orakelt. Linnemann findet das Quatsch. Ja, es sei für das Adenauer-Haus „ein schmaler Grat“, sich eine gewisse Eigenständigkeit zu bewahren, ohne immer gleich den Dissens mit dem Kanzler herauszufordern. Generalsekretäre seien aber keine Regierungssprecher, sondern für ihre Parteien verantwortlich. „Und in einer Denkfabrik können zuweilen Meinungen entstehen, die nicht zur aktuellen Regierungslinie passen.“
Die programmatische Selbstvergewisserung, die sich Linnemann von seiner Denkfabrik erhofft, kann aber nicht nur an Streitereien mit Kanzlern scheitern, sondern auch am Personal. Denn selbst die klügsten Grundsatzideen nützen nichts, wenn sie nachher nicht in Politik gegossen werden – oder man sie den Wählern nicht schmackhaft machen kann. Tauber sagt, schon zu seinen Zeiten habe man sich im Adenauer-Haus mit Nostalgie in der Stimme erzählt, dass der frühere Generalsekretär Heiner Geißler einen Mitarbeiter hatte, der nur über Begriffe und deren Prägung nachdachte: „Wer die Begriffe besetzt, besetzt die Köpfe.“
Auch das gehöre zu einer Denkfabrik, glaubt Tauber: ein nachhaltiges Politikmarketing. Aber dafür gebe es heute kaum noch Ressourcen. Einmal wollte Tauber im Adenauer-Haus einen Historikerkreis einführen, der großen programmatischen Linien wegen. „Da wurde mir in der Zentrale gesagt: Das wäre schön, Herr Tauber, aber dafür haben wir keine Leute, fragen Sie mal die Konrad-Adenauer-Stiftung.“ Seither gibt es in der Stiftung einen Beirat für Zeitgeschichte.
Überhaupt ist die CDU-nahe Stiftung, die in Berlin schräg gegenüber dem Adenauer-Haus liegt, schon jetzt eine Denkfabrik, wie Linnemann sie sich vorstellt. Der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert leitet die Stiftung seit seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik. Über ihn sagen manche, er sei auch ein „wandelnder Thinktank“, und er selbst erklärt, die Stiftung sei gegenüber der Partei in der „luxuriösen Lage“, keine Wahlen gewinnen zu müssen. Deswegen könne man sich viel eher erlauben, über langfristige Themen nachzudenken.
Nicht die CDU-Zentrale, sondern die Stiftung hat in den vergangenen Jahren wichtige Papiere veröffentlicht, die teils weitgehende Vorschläge für Strukturreformen gemacht haben. 2022 erschien ein viel diskutiertes Papier für eine Staatsreform, die eine Expertenkommission um den früheren Kanzleramtsminister und Bundesinnenminister Thomas de Maizière erarbeitet hatte. Und erst vor Kurzem veröffentlichte die Stiftung eine Studie zum Umgang mit rechtspopulistischen Parteien in Europa, die vor einer Zusammenarbeit mit der AfD und einem Fall der „Brandmauer“ warnte.

Lammert sagt, so eine umfangreiche Übersichtsstudie würde im Adenauer-Haus vermutlich nicht produziert, weil man dort viel aktueller denken müsse. Zum Beispiel: Was tun, wenn die AfD demnächst die stärkste Kraft in Sachsen-Anhalt wird? Bei der Stiftung hingegen geht es ums Grundsätzliche. Wie man mit Erkenntnissen aus solchen Studien umgehe und sie politisch umsetze, sagt Lammert, müssten die Partei und die Fraktion entscheiden.
Der frühere Minister de Maizière schlägt eine klare Arbeitsteilung vor: Die Stiftung kümmert sich um die großen gesellschaftlichen und ethischen Fragen, die Fraktion um die „tagespolitische Hardware“ – und das Adenauer-Haus um die Reichweite, das politische Marketing und die Koordination der verschiedenen programmatischen Kraftzentren der Partei. Eine Denkfabrik dürfe der Politik nicht hinterherhinken, sagt de Maizière. Im Sinne von: „Man tritt anders auf, zeigt sich mit diesem oder jenem Star, und dafür wird dann ein Strategiepapier gemacht.“ Er will, dass es um „programmatische Festigkeit“ geht statt um „kurzfristige Trends“.
Ein Beispiel: „Bei den zentralen Fragen wie der Rente, der Pflege, der Staatsquote oder der Steuerreform gibt es in der CDU keine einheitliche Position. Es müsste eine strategische Aufgabe des Adenauerhauses sein, diese Positionen zusammenzuführen und bei den großen Themen gemeinsame Linien zu entwickeln.“ Auch das Verhältnis zur AfD müsse das Adenauer-Haus grundlegend erörtern: Wie unterscheidet sich intensive Abschiebung von Remigration, wo hört konservative Politik auf und wo beginnt rechtspopulistische? De Maizière hält es für „dringend geboten“, dass die CDU solche Fragen „konsequent durchdenkt“.
In einer idealen Welt würde es also so ablaufen: Die Adenauer-Stiftung rät in einer grundsätzlichen Studie von einer Zusammenarbeit mit einer rechtspopulistischen Partei wie der AfD ab; das Adenauer-Haus erarbeitet daraus und aus den Erkenntnissen des eigenen Thinktanks programmatische Leitlinien für die Partei; die Fraktion und das Kanzleramt setzen die Programmatik in konkrete Politik um. Davon profitiert die CDU, weil sie von den Wählern für ihre Festigkeit und Prinzipientreue geschätzt wird.
In der Wirklichkeit laufen die Dinge ein bisschen anders. Wenn das Adenauer-Haus über Leitlinien zur AfD nachdenkt, gibt es eine öffentliche Debatte darüber. Dann finden Beobachter jemanden in Ostdeutschland, der gegen die Leitlinien verstößt, und fragen den Bundeskanzler, warum er nichts dagegen tut. Dann gibt es Nachfragen aus der Mitgliedschaft, was da eigentlich läuft in der Zentrale und ob das hilfreich ist vor dem Hintergrund von fünf Landtagswahlen im nächsten Jahr. Und dann gibt es irgendwann den Vorschlag, nicht zu viel und zu laut zu diskutieren.
Das Gegenteil davon zu versuchen, würde viel Mut erfordern. Politik machen, ohne an Wahlen zu denken. Nicht strategisch oder ängstlich, sondern ausschließlich nach dem Motto: Das halten wir für richtig. Und das machen wir jetzt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung