Alli Neumann: Kommt man mit Fagott und Cembalo in die Charts?


Die jungen Popfrauen wie Alli Neumann oder Paula Hartmann nutzen ihre neue künstlerische Freiheit. Sie bringen viele Fans aus den sozialen Medien mit. Deswegen lassen die Plattenfirmen sie eher machen.
Alli Neumann ist eine Ausnahmekünstlerin von europäischer Dimension. Das ist seit dem letzten Herbst amtlich, als sie in Hamburg den EU-Preis „Keychange Inspiration Award“ überreicht bekam. Prämiert werden „die Komplexität kultureller Identitäten“ und „Geschlechtergerechtigkeit“ in der Musik. Ein Pokal für Frauenpop.
Die Wahlberlinerin, Jahrgang 1995, mit norddeutsch-polnischer Biographie, nimmt eine derartige Würdigung natürlich artig entgegen, auch wenn der akademisch-bürokratische Duktus normalerweise weniger ihr Ding ist. Seit Teenagertagen hat sie sich in die Praxis gestürzt. Wenn sie nun im Tiktok-Feed verkündet, dass „mein Fagott und ich ein bisschen aufgeregt sind, weil wir nächste Woche neue Musik releasen“, klingt das nur teilweise nach einem Statement der Generation Z. Ein Fagott in Zeiten von Cloud Rap und Hyperpop? Und ein Cembalo ist auch noch dabei. Das barocke Klavier hatte Keyboard-Magier Rick Wakeman in den Siebzigern wiederbelebt; da war die Ära des Progrock, fransige Haarmähnen und Lammfelljacken inklusive, aber heute?

Neumann will nicht zurück zur elaborierten Klangkathedrale. Gemeinsam mit Produzentin Antonia Rug alias Novaa macht sie Komplexes leicht. Im Video tanzt sie mit ihrer reimenden Kreativschwester Fuffifuffzich über einen Schrottplatz und kloppt Cyndi-Lauper-mäßig die Kerle in die Tonne. „Raus mit dem Trash“, heißt es im Song „Schrott“, das Cembalo ist Element einer eingängigen Hook. Sie bekennt, dass es auf ihrem dritten Album „Roquestar“ auch digital generierte Fagott-Tonspuren gibt. Doch die schwer zu spielende klassische Holzröhre hat es ihr angetan. „Einige Fans werden gar nicht wissen, dass so ein Instrument überhaupt existiert. Also frage ich mich: Habe ich mich damit zu weit aus dem Fenster gelehnt? Es ist doch eine absurde Situation, wenn ich als Sängerin mit diesem Riesengerät auf die Bühne komme.“
Dieser Mix aus Verstiegenheit und Zweifel, neudeutsch auch als Imposter-Syndrom bekannt, ist eine Gemeinsamkeit von diversen aktuellen Female-Pop-Produktionen. Und das über Genregrenzen hinweg. Wo Virtuosität und Können im internationalen Maßstab mit Gitarristinnen wie Anna Calvi, Julien Baker oder Annie Clark (St. Vincent) längst hochgeschätzt werden, besteht hierzulande Nachholbedarf: Wer traut sich einen Karrieresprung zu, indem er ein künstlerisches Wagnis eingeht?
Vor einigen Jahren veröffentlichte der legendäre US-Gitarrenhersteller Fender eine Studie, dass über die Hälfte aller Erstkäufer seiner Instrumente in Großbritannien und den USA weiblich und speziell junge Frauen sind. Diente anfangs noch der „Taylor-Swift-Effekt“ als Erklärung dafür, sagte Fender-Chef Andy Mooney später: „Eigentlich ist das falsch. Taylor hat sich weiterentwickelt und spielt weniger Gitarre auf der Bühne als früher.“ Frauen lägen aber trotzdem weiterhin bei über 50 Prozent Käuferanteil. Das Phänomen sei also stabil langfristig und weltweit zu beobachten. In einem ansonsten überwiegend elektronisch geprägten Musikmarkt scheint die Zukunft der analogen Instrumente derzeit anscheinend eher weiblich zu sein.

Ein Beispiel dafür sind Power Plush aus Chemnitz, drei Frauen, ein Trommler. In ihrem Wechselspiel der Tonfarben hat das Mittzwanziger-Quartett enorm zugelegt. Gestählt durch jahrelanges Touren im Vorbandstatus wollen sie einerseits ihren rotzig-schroffen Gitarrensound frisch halten, dabei aber gleichzeitig technisch stetig „besser“ werden. Der lockere Punk-Geist soll nicht durch übertriebene Virtuosität vertrieben werden. Wichtig ist dabei das regionale Netzwerk der Blond-Schwestern Lotta und Nina Kummer, die Power Plush auf ihrem Betonklunker-Label auf dem kurzen Dienstweg gefördert haben.
Der früher so oft beklagte Druck der Plattenfirmen im Hinblick auf Hits und kommerzielle Verwertbarkeit, das bestätigt auch Alli Neumann, ist mittlerweile einem wohlwollenden Mal-machen-Lassen gewichen. Diesen Freiraum haben sich die Künstlerinnen selbst erkämpft – durch ihr erfolgreiches Vorgehen in den sozialen Medien und die dadurch geschaffene Fanbase: „Die meisten Künstlerinnen haben ja bereits eine Reichweite aufgebaut, bevor sie überhaupt vom Label wahrgenommen werden“, sagt sie. Dieser Do-it-yourself-Aufbau einer Gefolgschaft wird heute nicht mehr leichtfertig durch die Forderungen von Plattenfirmen nach mehr Mainstream-Soße gefährdet. Bei Power Plush sind die Mentorinnen schriller als das Nachwuchsquartett, das in schlampigen Schuluniformen zuweilen wie eine Parodie von AC/DC wirkt. Das neue Album „Love Language“ ist voller Gemeinheiten. Melodische Songs, die von Gitarren zersägt werden. Die hintergründigen Niedlichkeiten der englischsprachigen Songs driften vom Pop-Talk in eine kratzigere Grunge-Zone.
Alli Neumann spricht zufrieden von einem Vertrauensvorschuss bei ihrem Publikum. Sie könne sich Dinge erlauben, die sonst nicht so gehen. Seit ihrer ersten EP „Hohes Fieber“ von 2018 hat sie avantgardistische Nebenwege eingelegt, etwa bei der Erkundung von slawischem Kehlkopfgesang oder ihrem Poesie-Projekt mit dem polnischen Musiker Maciejczak. Für ihre Popfigur ging es gleichwohl immer weiter nach oben. Das Albumcover von „Roquestar“ zeigt sie als animiertes, silberglänzendes Alien, das in einer Kostümversion auch im billig gedrehten Clip-Filmchen zu „Ich kann gar nichts“ vorkommt. Der basslastige Fagott-Lauf hebt hier den swingenden Synthiesound auf ein eigenwilliges Level. Trug sie ihren Bob früher mal mit giftgrünen Spitzen und länger in einem knalligen Orange, setzt sie nun auf Blond mit Fantasy-Elfenohren. „Nicht immer zu wissen, wohin man passt, kann auch bedeuten: offen zu sein für alles, was einem begegnet. Eigentlich kann ich ja so einiges, doch ich denke halt oft genug, dass ich nix kann.“
Eine Geschichte aus dem Frankfurter Allgemeine Quarterly, dem Zukunftsmagazin der F.A.Z.
Mehr erfahrenGedanken, die Paula Hartmann sicherlich nachvollziehen kann. Die heute Vierundzwanzigjährige hatte schon in jungen Jahren zwei Dutzend Film- und Fernsehrollen. In einem Interview gestand sie, dass sie sich nie getraut hätte, ihr Talent in Richtung Musik weiterzudenken. „Weil ich halt schon die Schauspielerin war.“ Mittlerweile ist sie wieder von Hamburg nach Berlin zurückgezogen, und ihr düster gestimmtes zweites Album „kleine Feuer“ (mit kleinem k) war 2024 eine Sensation. In nur zwei, drei Jahren schaffte sie sich entsprechende (Vor-)Produktionsfähigkeiten drauf und entwickelte ein schaurig-ergreifendes Gefühl für die Fusion von Chanson und Hip-Hop-Beats.
„Zeig nie Herz, zeig nur Haut. Scheinwerfer flippen, Nacht flammt vor mir auf“, heißt es in „DLIT (Die Liebe ist Tod)“. Neonkalte Tristesse als Kunstform. Psyche und Begehren auf Pille. Zwei Millionen Mal wurden ihre sepiagetönten Metropolenmärchen bislang auf Spotify gestreamt. In diesem Spätsommer spielte Hartmann eine große Festival- und Open-Air-Tour. Ein Riesenerfolg. Und dennoch hadert sie damit, ob sie mittelfristig weitermachen soll. Ob die Welt noch ein drittes Paula-Hartmann-Album braucht, müsse sie sich noch überlegen, sagte sie im „Musikexpress“.
Alli Neumann ist da bereits einige Schritte weiter: „Ich hoffe, dass ich das länger machen kann, was ich mache – halt meine Ideen zu verwirklichen. Ohne große Sorgen. Das kommerzielle Level ist mir egal, gerne auch irgendwo auf dem Land. Kreative Aufgaben gibt es genug. Mir macht eine Show vor 20 Leuten im Regen genauso viel Spaß wie eine im Stadion.“
Frankfurter Allgemeine Zeitung