Was macht die Glace so bunt? Farbstoffe im Essen haben ein schlechtes Image – nicht immer zu Recht


Es ist heiss. Sehr heiss sogar. Wer sich zur Abkühlung eine Glace kauft, kann sie in ihrer schieren bunten Vielfalt bestaunen: die wunderbare Welt der Lebensmittelfarben.
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Knallgrüne Minzglace ist dort ebenso zu finden wie unnatürlich blaues und meist ebenso künstlich nach «Bubblegum» schmeckendes Schlumpf-Eis. Letzteres verdankt seine Farbe nicht etwa echten Zipfelmützenzwergen, sondern synthetischen Farbstoffen wie «Patentblau V» (E 131). Noch viel bunter wird es abseits schicker Gelaterien im Marktsegment «Eis am Stiel».
Nicht nur in vielen Glacesorten und Süssigkeiten für die Kleinen stecken Farbstoffe. Auch in Apéritifs für die Grossen sorgen sie für Farbe. Zur abendlichen Abkühlung ungebrochen beliebt ist etwa der Aperol Spritz, der dank E 110 (Gelborange S) und E 124 (Cochenillerot A) leuchtet, das intensivere Rot der Konkurrenz von Campari entsteht aus der Mischung von E 102 (Tartrazin), E 122 (Azorubin) sowie E 133 (Brillantblau FCF). Auch sonst spart die Lebensmittelindustrie nicht an Farbstoffen, vom Erdbeerjoghurt über Backwaren bis zum strahlend orangen Lachsersatz.
Vielen Verbrauchern und auch manchen Fachleuten ist das bunte Treiben allerdings suspekt: Lebensmittelfarben, insbesondere künstlich hergestellte, haben wegen gesundheitlicher Bedenken ein schlechtes Image. Manche der rund 40 in der Schweiz und der EU zugelassenen Substanzen könnten Krebs und Allergien auslösen, so die Sorge. Auch die Förderung von überaktivem Verhalten von Kindern wird diskutiert. Und in den USA hat der Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Lebensmittelfarben den Kampf angesagt, als seien sie der eigentliche Grund für die schlechte Gesundheit vieler Amerikaner.
Farben bestimmen unsere GeschmackserwartungDabei erfüllen die oft übertrieben knalligen Farben offenbar ein menschliches Bedürfnis. «Die Farbe ist der wichtigste produkteigene sensorische Hinweis, wenn es darum geht, die Erwartungen der Menschen in Bezug auf den wahrscheinlichen Geschmack und das Aroma von Lebensmitteln und Getränken zu bestimmen», meint der Oxford-Psychologe Charles Spence und fasst so deren Effekt in einem Überblicksartikel zusammen.
Welche Kraft diese Erwartungen haben, zeigt ein klassisches Experiment amerikanischer Forscher: Sie setzten Probanden Zuckerwasser vor, das stets nach Kirscharoma schmeckte, das sie aber mal rot, mal orange, mal grün färbten. Während die Tester den Geschmack beim roten Getränk stets korrekt erkannten, glaubte jeder Fünfte, bei der orangen Variante auch das Aroma von Orangen zu schmecken. Beim grünen Getränk tippte ein Viertel der Probanden fälschlich auf die Geschmacksrichtung Limette.
Deutschsprachige Probanden hätten vermutlich eher an Waldmeister gedacht. Was zeigt: Unsere Farb- und Geschmackserwartungen werden oft weniger von den Farben und Aromen der natürlichen Vorbilder geprägt als vielmehr von kulturell erworbenen Assoziationen. Die Industrie hat erkannt: Das Auge isst mit. Kein Wunder, versucht sie auf dieser Klaviatur zu spielen.
Und das seit je: Schon die alten Ägypter nutzten goldgelb färbenden Safran, um Nahrungsmittel appetitlicher aussehen zu lassen; in Südamerika kannte man ähnlich früh den roten Farbstoff Karmin, gewonnen aus Kaktus-Schildläusen. Er ist als E 120 bis heute in Süssigkeiten, Getränken und Wurstwaren, aber auch in Lippenstift und anderen roten Kosmetika zu finden. Das ärgert nicht nur Veganer, denn echtes Karmin wird bis heute aus den Insekten hergestellt. Auch Karmin-Allergiker reagieren auf die Substanz zum Teil heftig.
Ist «natürlich» immer besser? Und eine «E-Nummer» immer schlecht?Womit gleich zwei verbreitete Missverständnisse zu den Gesundheitswirkungen von Lebensmittelfarbstoffen widerlegt wären. Das eine ist die Vorstellung, Naturstoffe seien automatisch unbedenklich. Und das andere die Annahme, Stoffe mit einer E-Nummer seien immer synthetischer Herkunft (und damit automatisch schädlicher, siehe erstes Missverständnis).
Tatsächlich werden E-Nummern für alle Arten von Lebensmittelzusatzstoffen vergeben, Stoffe also, die der Verbesserung von Haltbarkeit, Geschmack, Textur oder eben des Aussehens von Lebensmitteln dienen. Das «E» steht dabei für «Europa», weil das inzwischen international gebräuchliche System 1962 von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eingeführt wurde. Die Ziffern 100 bis 180 sind darin für Farbstoffe reserviert.
Diese lassen sich grob in drei Kategorien aufgliedern: natürlich, naturidentisch und synthetisch. Natürliche Farbstoffe sind etwa der aus Tomatenschalen stammende rote Farbstoff Lycopin (E 160 d) oder die Carotinoide, die Karotten ihre Farbe geben (E 160a). Solche natürlichen Stoffe lassen sich oft einfacher und billiger mit den Mitteln der organischen Chemie nachbauen – dann gelten sie als «naturidentisch». Synthetische Farbstoffe schliesslich wurden komplett im Chemielabor entwickelt und haben meist kein Pendant in der Natur.
Zum Teil lässt sich der schlechte Leumund solcher Stoffe aus der jüngeren Geschichte verstehen: Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte die junge chemische Industrie vor allem für Textilien zahlreiche Farbstoffe. Nach dem Motto «Was kann da schon passieren?» verschönerten diese bald auch Nahrungsmittel.
Die Wildwestzeit der LebensmittelchemieIn der so ausgelösten, zunächst noch weitgehend unregulierten Farbenfreude wurden auch natürliche, aber giftige Mineralien wie rotes Bleioxid und Quecksilbersulfid (Zinnober) eingesetzt. Dies änderte sich erst nach einigen spektakulären Serien von Todesfällen. Grossbritannien und Deutschland erliessen gegen Ende des 19. Jahrhunderts erste gesetzliche Regelungen, die USA folgten einige Jahre später.
Heute sind synthetische Farbstoffe in den Industrieländern streng reguliert. «Sind Farbstoffe für die Verwendung in Lebensmitteln zugelassen, geht von ihnen keine Gefahr für die menschliche Gesundheit aus, vorausgesetzt, sie werden gemäss den Vorgaben der Zusatzstoffverordnung eingesetzt», erklärt das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) salomonisch.
Die Bedenken von Verbraucherschützern auch gegenüber den verbliebenen rund 40 zugelassenen Farbstoffen bleiben. Wie berechtigt sind sie? Der Teufel liegt im Detail. Das geht los bei der erlaubten Tagesdosis (ETD) in Milligramm pro Kilo Körpergewicht, die als gesundheitlich unbedenklich gilt und bei normalem Verzehr nicht überschritten werden darf.
Verdachtsmomente gibt es«Solche Aufnahmemengen für das echte Leben realistisch abzuschätzen, ist schwierig», sagt Lothar Aicher, Chemiker beim Schweizerischen Zentrum für Angewandte Humantoxikologie, das den Universitäten Basel, Genf und Lausanne angegliedert ist. Das grösste Problem bei der Bewertung des Risikos möglicher Gesundheitsschäden sei jedoch die oft unzureichende Datenlage aus Studien.
Beispiel Verhaltensauffälligkeiten durch synthetische Azofarbstoffe: Der Verdacht geht im Wesentlichen zurück auf eine Studie der Universität Southampton aus dem Jahr 2007. Darin zeigten drei- und achtjährige Kinder leicht verstärkt hyperaktives Verhalten, wenn sie sechs Wochen lang täglich ein Getränk mit sechs synthetischen Azofarbstoffen zu sich nahmen.
Fachleute und auch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) taten sich wegen des geringen Effekts und methodischer Schwächen der Studie schwer mit der Bewertung der Ergebnisse: Eine erste Stellungnahme der EFSA kam 2008 noch zu dem Schluss, es gebe keine ausreichenden Verdachtsmomente. Seit 2010 verlangt die Behörde trotz kaum veränderter Datenlage dann doch den Warnhinweis «Kann Aktivität und Aufmerksamkeit bei Kindern beeinträchtigen» auf Produkten, die einen der inkriminierten Farbstoffe der«Southampton Six» enthalten.
Manche Azofarbstoffe stehen zudem unter dem Verdacht, Krebs auslösen zu können. «Beim Abbau durch Bakterien im Darm können daraus tatsächlich bestimmte Amine entstehen, die wiederum unter Krebsverdacht stehen», sagt Aicher. Doch für die heute zugelassenen Farbstoffe dieser Gruppe sei die Evidenz dafür unsicher: «Hinweise gibt es. Und die Diskussion darum steht im Raum. Aber die Daten sind noch sehr widersprüchlich.»
Im Zweifel gegen den AngeklagtenAllerdings gelte im Falle der Farbstoffe das sogenannte Vorsorgeprinzip, also die Regel «Im Zweifel gegen den Angeklagten», so Aicher. «Schliesslich sind Lebensmittelfarben primär ein Marketing-Instrument.» Und für die meisten noch so leicht unter Verdacht stehenden Farbstoffe gebe es unbedenklichere Alternativen.
Genauer hinzusehen, findet der Toxikologe jedenfalls sinnvoll. Er warnt aber auch vor übertriebener Sorge: «Beim Aperol Spritz sollte man sich jedenfalls zuerst Gedanken über seinen Konsum von Alkohol und Zucker machen. Denn da ist die Evidenz für schädliche Wirkungen ziemlich eindeutig.»
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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