Zigaretten, Jeans und Unterwäsche: die wechselvolle Laufbahn des Calida-Präsidenten Felix Sulzberger


Warum tut er sich das an? Diese Frage stellen sich viele, als Felix Sulzberger vor rund zwei Jahren zu Calida zurückkehrt. Immerhin zählt er damals schon 72 Jahre, blickt auf eine lange Berufskarriere zurück, ist finanziell unabhängig und könnte seinen Lebensabend geniessen, etwa mit Segeltouren auf dem Mittelmeer. Vor allem aber präsentiert sich der Schweizer Wäschehersteller Calida im März 2023 in wenig einladender Verfassung. Ein Ruheposten fürs Alter wird das nicht – so viel steht fest.
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Jetzt sitzt Sulzberger in einem schmucklosen Besprechungszimmer am Hauptsitz von Calida im luzernischen Sursee. Und als man ihn fragt, warum er sich das antue, schweigt er zunächst – und holt dann aus. Er erzählt, wie er im November 2022, als noch nichts auf eine Rückkehr hindeutete, ehemalige Firmenkollegen zum Abendessen getroffen habe. Diese sagten ihm, wenn es bei Calida so weitergehe, ende es nicht gut. «Da war ich aufgewühlt. Denn mit diesen Leuten habe ich jahrelang zusammengearbeitet, sie lagen mir am Herzen.»
Aber was sieht Sulzberger in Calida über die Kolleginnen und Kollegen hinaus? Ein Love-Brand, der es nicht verdient, aus dem Bewusstsein der Schweizer zu verschwinden? Eine letzte Herausforderung? Oder eine Gelegenheit für persönliche Genugtuung?
Der Traum von grossen MarkenSulzberger und Calida – das ist eine komplizierte Beziehung: Zwei Mal wurde er zum Unternehmen geholt, um es in angeschlagener Verfassung wieder auf die Beine zu stellen. Das erste Mal im Jahr 2001, das zweite Mal im April 2023. Besonders pikant: Er wurde beim zweiten Mal von jenen Leuten zurückgeholt, die ihn nach dem ersten Einsatz unsanft aus der Firma gedrängt hatten: von der Gründerfamilie Kellenberger. Ausserdem: Beim ersten Einsatz konnte er zukaufen und expandieren. Jetzt muss er das Gegenteil tun, die Firma gesundschrumpfen.
Die Geschichte des gebürtigen Stadtberners ist eine jener Manager-Biografien, die nicht linear verlaufen, sondern zackenförmig. Dabei scheint die Laufbahn nach dem BWL-Studium in Graz vorgespurt. Der junge Betriebswirt, so der Plan, soll das Treuhandgeschäft des Vaters in Bern übernehmen. Er versucht es. Doch schon nach sechs Monaten ist für ihn klar: Das ist nicht seine Welt, er träumt von grossen Marken und einem internationalen Umfeld, nicht von Buchhaltung und Steuerberatung. Es zieht ihn weg.
Es ist nicht sein erster Wegzug. Er hat Erfahrung damit. Als jungen Schüler zieht es ihn weg aus dem Elternhaus, weshalb er das Gymnasium in einer Internatsschule in Schwyz besucht. «Ich wollte nicht bei den Eltern wohnen», sagt er. Bald zieht es ihn weg aus der Schweiz, weshalb er sein Studium in Graz absolviert, nicht nur der Liebe wegen, sondern auch weil er sich in der österreichischen Studentenstadt freier fühlt. Und schliesslich weg von der Erwartung, beruflich in die Fussstapfen des Vaters zu treten.
Textiler müssen planen könnenAlso bewirbt sich Sulzberger bei Philip Morris. Zu dessen Marken gehört Marlboro, die damals noch mit dem «Geschmack von Freiheit und Abenteuer» wirbt. Zehn Jahre bleibt er beim Zigarettenkonzern, acht Jahre davon in Lausanne. Doch als ihn Philip Morris als Expatriate nach Hongkong schicken will, stellt sich der frisch Verheiratete quer und verlässt den Konzern. Er hat es nie bereut und sagt heute: «Als Expat ist man ein Leben lang an ein Unternehmen gebunden. Doch ich bin ein freiheitsliebender Mensch und binde mich nicht gern.»
Nach den Zigaretten kommen die Jeans – und zwar nicht irgendwelche, sondern jene von Levi Strauss. Diese sind Mitte der 1980er Jahre in Europa besonders angesagt. Von Genf aus leitet Sulzberger für die amerikanische Kultmarke die Emerging Markets. Das bedeutet viele Reisen quer durch Osteuropa und Nahost – am Montagmorgen weg, am Freitagabend zurück. Eine Liebe auf den ersten Blick ist die Textil- und Bekleidungsindustrie nicht. «Als 36-Jähriger glaubte ich, schon alles zu wissen. Doch ich kämpfte zwei Jahre, um die Branche zu begreifen.»
Was war so anders? Eine Zigarettenschachtel sieht seit Jahrzehnten fast gleich aus, Lagerhaltung ist kein Problem, für einen Milliardenumsatz reichen 20 bis 30 Produkte. Alles sehr übersichtlich. Ganz anders der Bekleidungssektor: Von jeder Hose gibt es 20 Varianten – verschiedene Grössen, Farben, Stoffe, und alles immer nur für eine Saison. «Wer hier falsch plant, sitzt Ende Jahr auf einem Lager, das er abschreiben muss, weil in der nächsten Saison wieder ein ganz anderer Stil in Mode ist», sagt Sulzberger.
Der Mann für die RosskurDer Primat der Planung gilt auch bei Calida – jener Firma, die ihn nicht mehr loslassen soll. 2001 wechselt Sulzberger dorthin, nach zehn Jahren bei Levi Strauss und Abstechern beim Bekleidungshersteller Fruit of the Loom und beim Sportartikelkonzern Reebok. Erneut ist es keine Verzauberung auf den ersten Blick. Erich Kellenberger, der das von seinem Vater 1941 mitgegründete Familienunternehmen leitet und einen Nachfolger sucht, muss Überzeugungsarbeit leisten. Sulzbergers Zweifel: «Nach globalen Marken wie Marlboro, Levis und Reebok schien mir Calida allzu lokal.»
Vor allem aber: Wäsche erscheint Sulzberger weniger attraktiv als Oberbekleidung. Trotzdem sagt er zu. Unter einer Bedingung: Der damals knapp 50-Jährige will nicht nur Angestellter sein, sondern sich mit 10 Prozent an Calida beteiligen. Die Gründerfamilie sträubt sich, doch schliesslich einigt man sich auf 5 Prozent. Von seinem früheren Arbeitgeber freigestellt, nutzt der designierte CEO die Zeit bis zum Stellenantritt, um die Bücher von Calida zu studieren. Und stellt bald fest, dass die Schweizer Traditionsfirma mit existenziellen Problemen kämpft.
Da tagt es ihm: Vielleicht ist er auch deshalb eingestellt worden, weil er jene harten Entscheide fällen muss, die Kellenberger, ein eher sanftmütiger Patron, nicht fällen wollte oder sich nicht zu fällen traute. Die Verluste häufen sich, die Bestellungen brechen ein. «Wir verloren in einem einzigen Jahr einen Viertel des Umsatzes, waren verschuldet, brauchten dringend Cash.» Was folgt, ist eine Rosskur: Die Fabriken in Sursee und Indien werden zuerst geschlossen, dann folgt jene in Portugal. Übrig bleibt bis heute nur die Produktionsstätte in Ungarn.
Die Gründerfamilie bremst«Die Marke war stark, aber der Markt war in einem strukturellen Umbruch», sagt Sulzberger rückblickend. Die Stichworte des Umbruchs: Fast Fashion und Private Labels. Handelsketten wie H&M kaufen nicht länger externe Marken ein, sondern stellen die Textilien unter eigenem Namen selber her. Darunter leidet das Wäschesegment besonders. Denn anders als bei Oberbekleidung ist bei Wäsche nicht sichtbar, ob jemand edle Marken oder billige Massenware trägt. Also sparen viele bei jenen Textilien, die nachts unter der Decke und tags unter der Kleidung verborgen bleiben.
Diesen Wandel verschläft der Pyjama-Hersteller. Doch der Turnaround gelingt. Sulzberger kann ab 2003 wieder nach vorn schauen. Für ihn steht fest: Als börsenkotiertes Unternehmen muss Calida wachsen und sich diversifizieren. 2005 kauft er den französischen Lingerie-Hersteller Aubade, fünf Jahre später will Sulzberger neben Wäsche auch Oberbekleidung anbieten. Viele Namen stehen auf dem Wunschzettel, etwa der Sportbekleidungshersteller Odlo; doch der Preis ist zu hoch. Also kauft man die Lafuma-Gruppe, zu der die Outdoor-Marke Millet gehört.
Mit dem Essen kommt der Appetit. Sulzberger hält Ausschau nach weiteren Übernahmen. Gefallen würde ihm der Strumpfhersteller Wolford aus Bregenz, aber auch die Schweizer Outdoor-Marke Mammut. Doch das würde eine Kapitalerhöhung verlangen, was die Kellenbergers als Hauptaktionäre ablehnen. Sulzberger wird ausgebremst, nach fünfzehn Jahren operativer Führung. Auch im Verwaltungsrat ist er nicht länger erwünscht. Der Machtkampf findet in aller Öffentlichkeit statt. Die Kellenbergers setzen sich durch – und verpflichten Calida auf organisches Wachstum. Sulzberger verlässt 2016 die Firma.
Nach dem Wachsen das SchrumpfenUmso erstaunlicher der Telefonanruf nach sieben Jahren. Die Kellenbergers wenden sich erneut an den Mann, mit dem sie sich einst zerstritten haben. Auch Sulzberger ist überrascht. «Ich war weg von Calida, auch geistig», sagt er. Wurde der Streit beigelegt? «Wir sprachen kurz über die Episode und legten die Sache dann beiseite.» Der Pensionär und zweifache Familienvater, der seit dem Abgang bei Calida dem Verwaltungsrat von Holy Fashion (Strellson) angehört, überlegt zwei Wochen – und sagt dann zu. Zuerst als Verwaltungsratspräsident (VRP), bald auch als exekutiver VRP. Nun ist er für die Strategie und das Operative zuständig. Er hat mehr Einfluss als je zuvor.
Zwar sagt es Sulzberger nicht offen. Aber vielleicht ist der Anruf auch eine späte Genugtuung. Denn das Bekenntnis zu organischem Wachstum war bei Calida von kurzer Dauer. Schon wenige Jahre nach dem Streit über Sulzbergers Expansionspläne kauft Calida wieder Firmen zu – beweist dabei aber eine unglückliche Hand. In der Pandemie lässt man sich blenden vom boomenden Online-Geschäft und greift für das deutsche Online-Startup Erlich Textil allzu tief in die Tasche. Auch der Sprung in die USA mit dem Kauf der amerikanischen Wäschemarke Cosabella kann die Erwartungen bis jetzt nicht erfüllen.
Sulzberger, der bei Calida jahrelang auf Wachstum gesetzt hat, muss nun die Schubumkehr einleiten: Beteiligungen abstossen, das Portfolio entrümpeln, die Firma fokussieren aufs Kerngeschäft mit Wäsche (Calida) und Lingerie (Aubade). Schrumpfen statt wachsen. Steht das nicht quer zu seiner Überzeugung, dass Calida mit einem Umsatz von 230 Millionen Franken zu klein ist für die Börse – und daher wachsen muss? «Ich bin der Erste, der wieder expandieren will», antwortet er. «Aber das geht erst, wenn man gesund ist.» Noch sei Calida nicht so weit, das Unternehmen befinde sich aber auf gutem Weg dorthin.
Aufhübschen zum Verkauf?Unter Beobachtern hält sich derweil hartnäckig das Gerücht, Sulzbergers Aufgabe bestehe nicht zuletzt darin, Calida so weit zu stabilisieren und aufzuhübschen, dass das Unternehmen verkauft werden könne. Die Kellenbergers sind an diesen Spekulationen nicht unschuldig. Sie haben in der Vergangenheit wiederholt mit dem Abstossen ihrer Beteiligung geliebäugelt. Ein heikles Thema. Sulzberger sagt: «Der Verkauf darf nie ein Firmenziel sein. Wichtig ist, dass die Firma gut läuft. Und wenn sie gut läuft, ist entweder der Aktionär glücklich – oder es kommt jemand und macht eine bessere Offerte.»
Als Aktionär würde Sulzberger nicht profitieren. Er hält heute keine Anteilscheine mehr. Auf Anfang Juni hat er zudem die operative Verantwortung abgegeben an Thomas Stöcklin, den früheren Finanzchef von Manor. Dieser war ab 2005 bereits dreizehn Jahre für Calida tätig, zuletzt als Finanzchef an der Seite Sulzbergers; seit 2023 sitzt er auch im Verwaltungsrat. Ein Outsider ist er somit nicht, eher ein Vertrauter Sulzbergers. Die Zürcher Kantonalbank sieht das kritisch. Sie schreibt in einer Firmenanalyse: «Wir erachten die Chance, dass Herr Stöcklin viel frischen Wind in die Calida Group bringen wird, als gering.»
Hinzu kommt ein weiterer Zweifel: Kann Sulzberger überhaupt loslassen? Oder wird er als VRP weiterhin Einfluss nehmen aufs operative Tagesgeschäft? Es wird sich zeigen. Aber Stöcklin könnte es schwer haben, seinen langjährigen Chef und Mentor infrage zu stellen. Sulzberger kennt das Argument und schüttelt den Kopf: «Das ist der übliche Verdacht», sagt er. «Doch ich habe kein Problem mit Loslassen.» Auch das Verwaltungsratspräsidium wolle er lieber früher als später abgeben. «Von mir aus schon morgen. Wichtig ist, dass das Team bereit ist.»
Direkt und unzweideutigSulzberger muss niemandem mehr etwas beweisen, ausser vielleicht sich selbst. Das zeigt sich bei der jüngsten Bilanzmedienkonferenz, als er in einem abgewetzten Pullover und breitem Schweizerdialekt das Ergebnis präsentiert. Er tut dies ohne das übliche Management-Vokabular, sondern direkt und in einfachen Worten – etwa wenn er die Zukäufe seiner Vorgänger kritisiert. «Nichts ist mir ein solcher Greuel wie gekünstelte Kommunikation.» Das müsse er sich in seinem Alter nicht mehr antun, sagt er gelöst – und fast heiter.
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