Der Herrscher über den Trümmerhaufen: Wer ist Izz al-Din al-Haddad, der neue Chef der Hamas im Gazastreifen?


Seit einigen Tagen finden in Katar wieder «proximity talks» zwischen Israel und der Hamas statt. Das heisst: Die Unterhändler der beiden Kriegsparteien sitzen in unterschiedlichen Gebäuden in Doha, während katarische Vermittler hin und her eilen, um Nachrichten mit Forderungen oder Konzessionen für eine Waffenruhe zu überreichen. Ein Durchbruch wurde bislang nicht erzielt, auch wenn Donald Trump im Weissen Haus den Druck stetig erhöht. Es bleibt unklar, ob und wann die Waffen im Gazastreifen wieder schweigen werden.
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Für die islamistische Terrororganisation verhandeln deren Exil-Bosse, die seit Jahren den Schutz des katarischen Emirs geniessen. Federführend in den Gesprächen ist angeblich Khalil al-Haya, ein altgedienter Funktionär des «Politbüros» der Hamas. Doch die finale Entscheidung über Krieg oder Frieden und die Freilassung der israelischen Geiseln muss ein anderer treffen: Izz al-Din al-Haddad. Der Mittfünfziger ist seit weniger als drei Monaten der Hamas-Chef im kriegsversehrten Gazastreifen.
Als die Terroristen der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel einfielen und wahllos mordeten, folgten sie dem fanatischen Masterplan ihres damaligen Anführers Yahya Sinwar. Während eines Jahres leitete er aus den Tunneln unter der Küstenenklave den Krieg, bis er im Oktober 2024 fast schon zufällig im südlichen Gazastreifen getötet wurde. Darauf trat sein Bruder Mohammed in seine Fussstapfen. Doch nach wenigen Monaten erwischten die Israeli auch ihn: Bei einem Luftangriff am 13. Mai 2025 wurde Mohammed Sinwar in einem Kommandobunker unter dem Europäischen Spital in Khan Yunis getötet.
Darauf ging das Zepter an Izz al-Din al-Haddad über – einen Karriereterroristen aus der zweiten Reihe. Um ihn herrscht kein Personenkult wie um die Gebrüder Sinwar, und es ist nicht bekannt, ob er die Welt ausserhalb des Gazastreifens jemals kennengelernt hat. Ihm fehlen wohl die Netzwerke zum libanesischen Hizbullah oder zum Regime in Teheran, über die seine Vorgänger verfügt hatten. Gleichzeitig ist es nicht so, dass sich Haddad gegen viele Konkurrenten durchsetzen musste – die meisten hochrangigen Kommandanten der Hamas sind tot.
Haddad war schon als junger Mann der Hamas beigetreten, zunächst als einfacher Kämpfer in seiner Heimatstadt Gaza. Rasch stieg er innerhalb der Terrororganisation auf, kommandierte immer grösser werdende Einheiten. Er soll unter anderem eine wichtige Rolle in der berüchtigten Al-Majd-Einheit gespielt haben, die Kollaborateure jagt. Im Jahr 2021 übernahm Haddad in Gaza-Stadt das örtliche Kommando über die Kassam-Brigaden, den militärischen Flügel der Hamas. Ab November 2023 war er für den ganzen nördlichen Gazastreifen zuständig. Im Juli vergangenen Jahres wurde er Oberbefehlshaber der Kassam-Brigaden, nachdem sein Vorgänger Mohammed Deif getötet worden war.
Während des Krieges soll Haddad ausserdem für die israelischen Geiseln zuständig gewesen sein. Gegenüber dem «Wall Street Journal» berichtet eine nicht namentlich genannte zurückgekehrte Geisel, sie habe Haddad insgesamt fünfmal getroffen und sogar in der gleichen Wohnung wie er geschlafen. Der Hamas-Führer habe insistiert, Hebräisch zu sprechen, und nachgefragt, ob die Geisel etwas brauche. Bei einer späteren Begegnung sei Haddad dann negativ gestimmt gewesen – später habe sich herausgestellt, dass kurz zuvor sein Sohn getötet worden sei.
Haddad fordert den vollständigen Abzug IsraelsLaut Berichten hat Israel mehrfach vergeblich versucht, auch Haddad zu ermorden. Er soll sich vor allem im Untergrund bewegen. Wohl auch deshalb wurde ihm der Übername «Der Geist von al-Kassam» verliehen. Laut dem «Wall Street Journal» war Haddad direkt an der Planung des Hamas-Überfalls im Oktober 2023 beteiligt. Am Vorabend des Massakers soll er die konkreten Angriffspläne an ihm unterstellte Kommandanten weitergegeben haben. Im November 2023 setzte Israel ein Kopfgeld von 750 000 Dollar auf ihn aus.
Heute kommandiert Haddad eine Terrororganisation, die mit dem Rücken zur Wand steht. Israel kontrolliert inzwischen rund 70 Prozent des Gazastreifens und rückt weiter vor. Die israelische Armee hat laut eigenen Angaben einen Grossteil der militärischen Infrastruktur zerstört und mehr als 20 000 Hamas-Kämpfer getötet. Mancherorts haben bewaffnete Clans das Machtvakuum gefüllt. Gleichzeitig ist es Haddad offenbar gelungen, Tausende Neumitglieder zu rekrutieren. Diese sind zwar schlecht ausgebildet und unerfahren. Doch mit ihren Guerilla-Taktiken ist die Hamas nach wie vor fähig, tödliche Angriffe zu verüben.
Zu Wochenbeginn wurden etwa im nördlichen Gazastreifen fünf israelische Soldaten durch improvisierte Bomben getötet. An Sprengstoff mangelt es den Terroristen auch nach 21 Monaten nicht – diesen gewinnen sie unter anderem aus Tausenden von israelischen Bomben, die nicht explodiert sind. Diese Form des Kampfes kann die Hamas wohl noch lange weiterführen.
Aber auch Haddad weiss, dass es so nicht für immer weitergehen kann. Deshalb verfolgt auch er das Ziel, durch ein Abkommen mit Israel das Überleben seiner Organisation zu sichern. In einer im Januar ausgestrahlten Dokumentation von al-Jazeera sagte der im Halbdunkel sitzende Haddad, Israel müsse sich «unseren gerechten Forderungen» beugen. Damit meinte er einen vollständigen Rückzug der Israeli, ein Ende des Krieges und die Freilassung von palästinensischen Häftlingen. Laut Experten dürfte die Hamas nach wie vor stark genug sein, um auch nach einem Kriegsende ihre Macht über das zerstörte Küstengebiet wieder auszuweiten.
Laut der «New York Times» soll Haddad kürzlich gesagt haben, dass er den Krieg entweder mit einem «ehrenhaften Abkommen» beenden werde – oder dass sich der Kampf zu einem «Krieg des Märtyrertums» entwickeln werde. Wie genau er sich in den derzeitigen Verhandlungen mit Israel verhält, ist unklar. Laut manchen Berichten ist er pragmatischer als seine Vorgänger und soll im vergangenen Januar Mohammed Sinwar davon überzeugt haben, einer Feuerpause zuzustimmen. Andere Experten sagen, Haddad habe genau die gleichen roten Linien gezogen wie die Hamas-Bosse vor ihm.
In den kommenden Tagen wird sich zeigen, ob sich die Kriegsparteien zumindest auf die diskutierte 60-tägige Feuerpause einigen können. Ob danach auch der Krieg endet, ist eine andere Frage. Israel fordert eine Entwaffnung der Hamas sowie den Gang ins Exil für ihre Anführer. Bis jetzt weist nichts darauf hin, dass Izz al-Din al-Haddad, der Herrscher über den Trümmerhaufen, zu einer Kapitulation bereit ist.
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