«Ich schreie auf dem Wasser»: Maud Jayet zeigt den Männern im Schweizer Sail-GP-Team, wo es langgeht


Maud Jayet war sieben Jahre alt, als die Eltern sie für das Sommercamp des Club Nautique de Pully anmeldeten. Das Schweizer Segelteam Alinghi gewann 2003 zum ersten Mal den America’s Cup und löste eine Segeleuphorie im Land aus. Jayet liess sich von dieser Begeisterung anstecken, lernte als Mädchen auf dem Lac Léman das Segeln.
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22 Jahre später kehrt Jayet zurück. Auf einem bis zu 100 km/h schnellen und drei Tonnen schweren F-50-Rennkatamaran. Beim Sail GP fliegen die Highspeed-Boote auf Foils über das Wasser, es gibt unter anderem Stationen in Dubai, Sydney oder New York – und nun in Genf. Die Parcours sind eng, die Jachten brettern oft nur wenige Meter aneinander vorbei, manchmal kommt es zu Kollisionen. Der Sail GP wird auch als die Formel 1 auf dem Wasser bezeichnet, an einem Wochenende finden mehrere Rennen statt. Deutlich weniger idyllisch also als zu Jayets Anfängen als Seglerin.
Auf dem Rennboot des Schweizer Sail-GP-Teams segeln sechs Crewmitglieder; Jayet ist die einzige Frau und zuständig für die Strategie. Sie beobachtet unter anderem die gegnerischen Jachten, analysiert den Wind – und vermeidet vor allem Kollisionen. «Die Teamkollegen wissen immer schon vorher, falls etwas passieren könnte – ich schreie auf dem Wasser», sagt Maud Jayet.
«Am Anfang fanden manche in der Segelszene, wir Frauen seien im Boot nur Galionsfiguren», sagt Jayet. Die Wertschätzung habe sich im Verlauf der Jahre aber geändert; im Sail GP herrsche Gleichberechtigung. In diesem Jahr gibt es mit Martine Grael aus dem brasilianischen Team auch die erste Steuerfrau in der Rennserie. Jayet hofft, dass diese Entwicklung noch weitergeht. Sie schlägt vor, pro Saison im Sail GP eine Regatta auszutragen, bei der nur Frauen an Bord sind.
Vom Segelcamp am Genfersee bis zu den Olympischen SpielenWenig deutete darauf hin, dass Jayet einmal Profiseglerin würde. «Meine Eltern waren selbst nie Segler und wussten auch nichts darüber», sagt sie. Nach dem ersten Segelcamp 2003 machte sie weiter, angespornt durch den Bruder, der ebenfalls im Camp war. Jayet spielte auch Tennis, ging Ski fahren, tanzte und spielte Klavier. Doch nur Segeln bereitete ihr über längere Zeit Spass. «Es war für mich klar, dass ich segeln wollte, ich liebe es einfach, im oder auf dem Wasser zu sein», sagt sie.
Sie wurde immer besser, segelte an Wettkämpfen. Mit 14 Jahren nahm sie erstmals an Weltmeisterschaften teil, in der Klasse Optimist, Kategorie: Kinder unter 15 Jahren. Der Wettbewerb trieb sie an: «Ich hasse langweilige Trainingseinheiten, bei denen man stundenlang geradeaus fährt», sagt sie. Die Ziele wurden immer ambitionierter, bis die Olympischen Spiele in Reichweite rückten. Trotzdem dachte sie nie daran, Profi zu werden: «Ich mache bei Olympia mit, und wenn ich älter werde, höre ich auf und suche mir einen richtigen Job», sagte sich Jayet.
Nach der Matura studierte Jayet in Teilzeit Jura an der Universität Lausanne. Daneben segelte sie so oft wie möglich und verfolgte den Olympiatraum. Dieser ging 2021 in Tokio in Erfüllung. Ein Jahr später wurde sie EM- und WM-Zweite und begann mit den Vorbereitungen auf die nächsten Spiele in Paris. Dort wollte sie unbedingt eine Medaille gewinnen.
In Paris verpasste sie das Podest knapp, wurde Vierte. Eine grosse Enttäuschung. Doch Jayet machte weiter, alles begann von vorne. «Es war eine schwierige Entscheidung weiterzumachen», sagt sie. Sie weiss, wie viel Arbeit die Olympiavorbereitung bedeutet. 250 bis 280 Tage ist sie im Ausland und trainiert ständig. Jayet sagt: «Dafür opfere ich seit Jahren mein Sozialleben.»
Die olympischen Ringe trägt sie an einer goldenen Kette um den Hals. Eine Medaille auf der grösstmöglichen Bühne bleibt das Ziel. Daran hält sie sich fest, wenn sie sich die Sinnfrage stellt. «Dieses Ziel treibt mich jeden Tag an. Es motiviert mich, morgens aufzustehen und dafür zu arbeiten», sagt sie. Es sei wie eine Droge.
Wenn sie einen freien Tag ohne Training oder Termine hat, verbringt sie ihn am liebsten zu Hause im Bett. «Es klingt ziemlich faul, aber die besten freien Tage sind die, an denen ich mir leisten kann, nichts zu tun», sagt sie. Sie schaue dann «Teenager-Kram» wie die Serie «Vampire Diaries» oder was Netflix sonst so hergebe.
Im Dezember letzten Jahres schloss Jayet den Master in Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Lausanne ab. Mittlerweile setzt sie voll auf den Sport, hat auch Zeit, im Schweizer Sail-GP-Team zu segeln. Juristin und an Bord die Strategin – das passt. Jayet sagt, sie sei präzise, akribisch, perfektionistisch; egal ob im Beruf oder im Sport. «Und ich habe immer recht», sagt sie lachend: «Das glaube ich zumindest.»
Die Jahre im Spitzensport hätten sie aber gelehrt, dass die Jagd nach einer Olympiamedaille auch verrückt machen könne. Mittlerweile hat sie sich mit der Möglichkeit abgefunden, dass sie eine Medaille auch 2028 verpassen könnte. «Für mich sind Los Angeles ganz sicher die letzten Olympischen Spiele.»
Die Rennserie Sail GP hat diese Entscheidung erleichtert. Olympia sei nun nicht mehr ihr einziger Fokus. Sie sieht in der Hochgeschwindigkeitsregatta die Zukunft ihres Sports – und auch ihre persönliche. Im Moment ist es für Jayet unvorstellbar, in einen Bürojob zu wechseln.
An den Olympischen Spielen ist Jayet jeweils solo unterwegs. Sie trifft alle Entscheidungen selbst. Am Sail GP ist sie hingegen Teil einer Crew. Am Anfang war das eine grosse Umstellung. Jayet lernte Kontrolle abzugeben, die Verantwortung zu teilen. «Das ist sehr wertvoll, weil jeder im Team so viel zu bieten hat. Ich lerne ständig dazu», sagt sie.
Sie wolle sich mit dem Segeln weiterentwickeln, sagt die 29-Jährige. Sail GP ist professionell organisiert, die Seglerinnen und Segler sind Profis. «Es ist mein Job», sagt Jayet. Nur mit olympischem Segeln den Lebensunterhalt zu verdienen, sei praktisch unmöglich.
Die Rennserie wächst stetig, vor allem in Neuseeland und Grossbritannien hat der Sail GP ein grosses Publikum. «Dort kommen übers Wochenende 20 000 bis 30 000 Leute, um die Regatten zu sehen», sagt Jayet. Auch der Grand Prix in Genf ist ausverkauft, rund 7000 Zuschauerinnen und Zuschauer werden erwartet.
Die kurzen, intensiven Rennen dauern nur 12 bis 14 Minuten; sie sind packend und reizvoll fürs Publikum. Zudem machen vier Rennen in anderthalb Stunden die Events kurzweilig und leicht verständlich – auch für Nichtsegler.
In Genf hofft Jayet nun auf günstige Winde. Alles, was danach komme, werde sich zeigen. Ihr bleibt ja noch eine Gelegenheit, die goldene Olympia-Halskette durch eine Medaille zu tauschen.
nzz.ch