Ein Anfang, kein Ende – so hat sich die Schweiz ins Nationalteam verliebt

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Ein Anfang, kein Ende – so hat sich die Schweiz ins Nationalteam verliebt

Ein Anfang, kein Ende – so hat sich die Schweiz ins Nationalteam verliebt
Das war’s: Das Team dankt am Freitag nach dem Ausscheiden gegen Spanien im Wankdorf seinen Fans.

Pascal Kesselmark / Imago

18. Juli 2025Viertelfinal gegen Spanien

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Als für die Schweiz das Heimturnier fertig ist, fragt man sich: weinen oder freuen? Es ist ein Gefühlschaos im Berner Wankdorf nach dem Ausscheiden im Viertelfinal gegen Spanien. Aufopfernd hatten die Schweizerinnen gekämpft, mit einem Publikum im Rücken, das sie unablässig antrieb. Und sie am Ende bejubelt, als hätten sie nicht 0:2 verloren, sondern gewonnen.

So falsch ist das nicht: In wenigen Wochen hat das Team Menschen im ganzen Land für sich eingenommen. Mit seinem Mut, seiner Frische, seiner Grossherzigkeit. Am Samstagnachmittag kommen nochmals alle zusammen: Auf dem Bundesplatz feiern die Spielerinnen mit den Fans.

Auch sie kämpfen mit unterschiedlichen Gefühlen. In der Kabine sei geweint und getanzt worden, erzählt die Nationaltrainerin Pia Sundhage am Tag danach. Sie ist müde, wie alle, die das Abenteuer mitgemacht haben. Wie es denn nun weitergehe mit ihr, wird sie an der Medienkonferenz gefragt. Der Vertrag der 65-jährigen Schwedin läuft noch bis Ende Jahr. Es sei zu früh, um etwas zu sagen, antwortet Sundhage. Auch Marion Daube, Verantwortliche für Frauenfussball im Schweizerischen Fussballverband, will zuerst die letzten Wochen setzen lassen, bevor über die Zukunft der Trainerin diskutiert wird.

Unsere Reise beginnt mit Pia Sundhage.

17. Dezember 2024Interview mit der Nationaltrainerin
«Spread your wings»: Pia Sundhage, die Mutmacherin.

Die letzte Frage an Pia Sundhage ist kühn: «Kann die Schweiz Europameister werden?» «Ja!», ruft die Nationaltrainerin und strahlt. Möchte sie das ausführen? «Nein.» Es sind die letzten Stunden, die sie in der Schweiz verbringt, bevor sie heim nach Schweden reist, um mit der Familie Weihnachten zu feiern. Im Haus des Fussballs in Muri herrscht Jahresendstimmung, alle freuen sich auf ein paar freie Tage, bevor das fordernde EM-Jahr beginnt.

Sundhage, wie immer aufmerksam und gesprächig, erzählt vom EM-Eröffnungsspiel 2013 in Schweden, als sie schwedische Nationaltrainerin war. Wie sie vom Bus aus die Fans sah, alle zusammen, schwedische Familien und dänische. Wie viel ihr das bedeutet hat. Sie sagt, sie hoffe, etwas Vergleichbares geschehe auch in der Schweiz.

Sie spricht darüber, dass die Jungen an der EM eine wichtige Rolle spielen können und was sie ihnen vermitteln möchte: «Eine Sache nicht zu versuchen, ist der grösste Fehler, den man machen kann. Spread your wings – nur so holst du das Beste aus dir heraus.» Das haben die Jungen getan, überhaupt sind viele im Team über sich hinausgewachsen.

Nur bei einer Sache war Pia Sundhage zu verwegen: Auf den Europameister-Titel muss die Schweiz weiter warten.

21. März 2025Interview mit Lia Wälti
Der Moment ist endlich da: Lia Wälti hat vor dem ersten EM-Spiel Tränen in den Augen.

Es ist Freitagabend, Lia Wälti hat es sich in einem Sessel in ihrem Zuhause in St. Albans im Norden Londons bequem gemacht. Über die Kamera des Laptops zeigt sie den Gesprächspartnerinnen in Zürich, dass sie mitten in einer Baustelle sitzt. Wälti baut gerade ihre Wohnung um. Es ist eines von vielen Projekten, die die 32-Jährige in diesem Frühling vor der EM hat: Mit Arsenal spielt sie noch in zwei Wettbewerben, mit ihrer Schwester hat sie ein Kinderbuch herausgebracht, und kurz vor der EM warten die Abschlussprüfungen im Fernstudium.

Die Captain des Schweizer Nationalteams antwortet wie immer offen auf alle Fragen, sie spricht über den Umgang mit mentalen Problemen im Sport, über die Risiken der schnellen Entwicklung des Frauenfussballs, über die Leistungen des Nationalteams und ihre schier unersetzbare Rolle im Team. Bloss eines ist kein Thema: ihre Gesundheit.

Erst viel später, Ende Mai, macht Wälti öffentlich, dass es ihr im vergangenen halben Jahr gesundheitlich nicht gut ging. Dass sie unter Schmerzen spielt, vor jeder Partie neu entscheiden muss, ob es geht. Welche Probleme sie genau hat, weiss man bis heute nicht. Nur so viel: dass sie auf die Zähne beisst, um ihrem Team alles zu geben, was sie kann.

3. Juni 2025Abstieg in der Nations League
Schon nach wenigen Minuten im Rückstand: Die Schweiz verliert in der Nations League gegen Norwegen und steigt ab,

Salvatore Di Nolfi / Keystone

Die EM-Vorbereitung nimmt Züge eines Fiaskos an. Fast keine Tore und seit Monaten kein Sieg. Fast 7000 Personen sind im Stade de Tourbillon zugegen, als die Schweizerinnen in der Nations League gegen Norwegen gewinnen müssen, um nicht abzusteigen. Schon nach vier Minuten liegen sie 0:1 im Rückstand, daran ändert sich bis zum Schluss nichts mehr. Wieder ein Dämpfer, zumal gegen den ersten EM-Gegner. Und vor allem: Der Abstieg in der Nations League erschwert die Qualifikation für die WM 2027 in Brasilien.

Danach ist Schönfärberei angesagt, obschon der Match den Verantwortlichen an der Seitenlinie und auf der Tribüne durch Mark und Bein fährt. Allein die Physis der Norwegerinnen – was für eine Differenz zur Schweizer Auswahl. Livia Peng hütet das Tor, aber es ist nicht klar, ob sie oder Elvira Herzog an der Endrunde die Nummer 1 ist. Wo gibt’s so etwas vor einem Turnier? Ramona Bachmann spielt nicht, Ana-Maria Crnogorcevic ebenfalls nicht. Lia Wälti bespricht sich schon früh mit der Trainerin Pia Sundhage an der Seitenlinie.

Nach dem folgenschweren Spiel wird die erfahrene Trainerin gefragt, ob dies eine der grössten Herausforderungen ihrer Karriere sei. Sie antwortet: «Yessssss.»

16. Juni 2025Media Day
Lässt sich viel Zeit mit der Wahl ihres Kaders: Sundhage fordert die Spielerinnen heraus.

Es soll Menschen geben, die Speed Dating mögen, also das effiziente Kennenlernen von Fremden, mit denen man für ein paar Minuten spricht, bevor man zum nächsten wechselt. Im Seminarraum Sonne im Paraplegikerzentrum Nottwil sieht es nicht danach aus, als würden besonders viele das Format lieben.

Zu Beginn der zweiten Vorbereitungswoche vor der EM lädt der Fussballverband zum Speed-Dating-Media-Day ein: Fast alle Spielerinnen aus dem erweiterten Kader sind anwesend und bewegen sich in kleinen Gruppen von Tisch zu Tisch. Dort treffen sie für 15 Minuten auf vier, fünf Journalistinnen und Journalisten, die sie vom Lieblingsessen über den verheilten Kreuzbandriss bis zur Trainingsintensität befragen.

Lia Wälti ist angespannt, Ana-Maria Crnogorcevic erst vor ein paar Stunden aus den USA kommend gelandet, Coumba Sow weiss nicht, ob sie im definitiven Kader dabei sein wird, und repetiert, dass sich das nicht gut anfühlt. Und schon scheucht der Presseverantwortliche sie weiter.

Nach zwei Stunden erlahmen die Gespräche, Medienmenschen und Spielerinnen schauen sich müde an. Was gibt es noch zu sagen? Es ist Zeit, dass die EM anfängt.

23. Juni 2025Kaderbekanntgabe: Die Geschichte von Ramona Bachmann
Fällt kurz vor der EM mit einem Kreuzbandriss aus: Ramona Bachmann.

Noch neun Tage bis zum EM-Start. In einer UBS-Filiale an der Zürcher Bahnhofstrasse erläutert Pia Sundhage ihre Wahl der 23 Spielerinnen, die es ins EM-Kader geschafft haben. Es gibt keine grösseren Überraschungen, aber viel Gesprächsstoff rund um eine Spielerin, die nicht auf der Liste steht: Ramona Bachmann, seit fast zwanzig Jahren Stammspielerin.

Am Tag davor hat die 34-Jährige in einer SRF-Dokumentation öffentlich gemacht, dass sie im vergangenen Winter wegen einer Angststörung sieben Wochen in der Privatklinik Meiringen verbracht habe. Lange behielt sie das Problem für sich, doch ihr engstes Umfeld spürte, dass etwas nicht stimmte. Als Mitspielerinnen bei einem Nationalteam-Zusammenzug im November gar fürchteten, sie könne sich etwas antun, willigte Bachmann schliesslich ein, professionelle Hilfe anzunehmen.

Diese psychische Krise war aber nur indirekt der Grund, weshalb Bachmann die EM verpasste. Drei Wochen vor dem Turnier riss ihr Kreuzband. Es ist ein Klassiker: Der Körper nimmt dem Kopf mit der Verletzung eine Entscheidung ab. Bachmann hatte wegen der Medikamente während ihrer Therapie fünf Kilogramm zugenommen, das Training lief nicht so gut wie gewohnt. Sie kämpfte mit sich: Sollte sie ihren Platz freiwillig aufgeben? Oder hat sie die Teilnahme am Turnier durch ihren langjährigen Einsatz verdient? Da sagte der Körper Stopp. Und trotz dem Schock und den Schmerzen fiel ein grosser Druck von Bachmann ab.

25. Juni 2025Gespräch mit den Eltern Beney
Sie verkörpert den jugendlichen Elan des Nationalteams: Iman Beney.

Eine Woche bis zum Turnierbeginn. In Savièse hoch über dem Rhonetal wissen Cleo und Nicolas Beney noch nicht, dass ihre 18-jährige Tochter Iman eines der Gesichter des Turniers werden wird.

Es ist einer dieser heissen Tage Ende Juni, die Beneys sitzen draussen auf der Terrasse. Zu ihren Füssen breiten sich Weinberge aus, in der Ferne ragt das Schloss Tourbillon auf. Sie erzählen, dass Iman schon früh weggegangen sei von zu Hause, mit 12 Jahren, und dass sie nur noch selten heimkomme. Es wird ein langes, nachdenkliches Gespräch über das, was der Fussball mit dem Leben des Kindes macht und mit dem der Eltern. Nicolas, der Vater, der selbst Profi war, sagt, er habe sich einst überlegt, ob er seine Tochter ermutigen solle, eine Fussballkarriere einzuschlagen.

Jetzt freuen sich die Beneys über das Abenteuer, in das der Fussball ihr Leben verwandelt hat. Ein paar Tage später ziehen sie sich das Schweizer Trikot mit der Nummer 19 über, sie fahren nach Basel, nach Bern, nach Genf, und sie sehen, wie Iman über den Platz rast, 18-jährig erst, blutjung, wie Sydney Schertenleib, wie Leila Wandeler. Sie alle verkörpern den jugendlichen Elan des Nationalteams, der bald das Land in seinen Bann zieht.

26. Juni 2025Testspiel gegen Tschechien
Die Hoffnung kehrt zurück: Riola Xhemaili bringt die Schweiz im Testspiel gegen Tschechien in Führung.

Michael Buholzer / Keystone

Xhemaili, Reuteler, Vallotto, Fölmli. Vier verschiedene Spielerinnen treffen beim 4:1 gegen Tschechien im letzten Testspiel vor der EM auf der Winterthurer Schützenwiese. Wirklich? Ja.

Vor allem Riola Xhemaili spielt gross auf, neben ihrem Tor brilliert sie mit einem Absatztrick, der zu Géraldine Reutelers Treffer führt. Überhaupt macht die Offensive Freude; es ist, als belebe eine neue Energie das Team. Darf man also doch hoffen?

Das zaghafte Aufkeimen von Optimismus an diesem lauschigen Sommerabend markiert einen Wendepunkt. Der Schwung wird auch nicht erlahmen, als das Nationalteam das erste Gruppenspiel gegen Norwegen eine Woche später verliert. Und es wird Riola Xhemaili sein, die mit ihrem 1:1-Ausgleich im dritten Gruppenspiel gegen Finnland in der 92. Minute der Schweiz die Türe zum Viertelfinal öffnet.

Nur eine Sorge verdichtet sich in Winterthur. Während nach dem Spiel draussen die Kids kreischen, weil Alisha Lehmann ein paar Runden dreht, gibt im Stadionkeller die Nationaltrainerin Pia Sundhage Auskunft über Lia Wältis Gesundheitszustand. Die Kapitänin hat nicht gespielt, das Knie. Doch in den vier EM-Spielen wird es halten.

2. Juli 2025Das Auftaktspiel
Explosion der Freude: Nadine Riesen (Mitte) schiesst die Schweiz gegen Norwegen in Führung.

Pascal Kesselmark / Imago

Bei 37 Grad dicht aneinandergedrängt im Tram zu stehen, ist keine Freude. Doch an diesem Abend spielt das keine Rolle. Wie schon den ganzen Nachmittag in der Basler Innenstadt ist dieses Kribbeln spürbar, das grosse Sportereignisse kreieren können. Weiter hinten im Drämmli stimmt jemand ein «Hopp Schwiiz» an. Das Tram fährt zum St.-Jakob-Park, zum Eröffnungsspiel der EM, Schweiz - Norwegen. Endlich geht es los.

Gänsehaut während der Nationalhymne. Und dann trauen die 34 000 Menschen ihren Augen kaum: So gut, so kämpferisch, so überzeugt von sich sind die Schweizerinnen schon lange nicht mehr aufgetreten. Sie verlieren einen Match 1:2, der über die 90 Minuten so ziemlich alles beinhaltet, was man sich wünscht, ein Auf und Ab der Emotionen: das Schweizer Führungstor. Ein Schweizer Eigentor. Ein verschossener Penalty des Gegners. Im Gegenzug ein Penaltypfiff für die Schweiz, der zurückgenommen wird. Lattenschuss, Spannung bis zum Schluss.

So muss Fussball sein.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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