Wie Hermann Göring zu einem der gefährlichsten Nazis wurde: Ein Psychogramm

Der Journalist Andreas Molitor hat eine höchst spannende Göring-Biografie vorgelegt, in der er sich auch mit der schwierigen Kindheit des Kriegsverbrechers befasst.
Vier Jahre lang hat sich Andreas Molitor mit Hermann Göring befasst. Er sprach mit Historikern, Suchtforschern, Kunstexperten und Psychologen – und manchmal kam er an seine Grenzen, so sehr wühlten ihn die Gefühllosigkeit, die Verbrechen und die dokumentierten Zitate des einstigen Reichsmarschalls und zweiten Mannes im NS-Staat auf. An manchen Tagen brauchte er nach getaner Arbeit eine Art emotionale Dekontamination: ein Besuch bei Freunden, ein Bier an der Theke, eine sehr laut gehörte Lieblingsplatte, schnelle Bahnen im Schwimmbad.
Zum Interview in den Berliner Verlag kommt Molitor mit Freude am Erzählen und an der Zuspitzung – und mit etlichen unbekannten Details über jenen kalten Nationalsozialisten, der es vermochte, zwischen anderen NS-Größen zu schillern. Zwischendurch, wenn er berichtet, wie tief und intensiv er sich mit den Verbrechen des Mannes hinter Hitler beschäftigt hat und wie ihm das alles auch nahe gegangen ist, springt er plötzlich auf, geht gestikulierend im Raum herum und erzählt weiter.
Herr Molitor, Ihre Göring-Biografie liest sich so spannend, dass man regelrecht mitgerissen wird. Fast schämt man sich für diese Euphorie, geht es doch um einen Nazi und Kriegsverbrecher.
Wie kam es zu diesem Buch? Über einen Umweg. Für eine historische Reportage habe ich mich vor fünf Jahren mit der Rolle Görings bei den Nürnberger Prozessen befasst. Das war sozusagen der Start meiner persönlichen Göring-Reise. Ich las die Prozess-Protokolle, insbesondere das Rededuell zwischen dem amerikanischen Chefankläger Robert Jackson und Göring. Da sah Jackson teilweise schlecht aus, Göring war gut vorbereitet und bestens aufgelegt. Ich fragte mich: Wie hat es dieser Mann – den Tod am Strang vor Augen – eigentlich geschafft, die Szenerie dort zu kapern und all die anderen NS-Kriegsverbrecher, die mit ihm auf der Anklagebank saßen, um sich zu scharen, sie so zu manipulieren, dass alles nach seinem Drehbuch abläuft? So wurde ich neugierig, suchte nach Göring-Biografien und stellte fest, dass alle schon 40 Jahre oder älter sind. Diese Bücher sind klassisch geschrieben, sehr detailreich, da schreiben Historiker für Historiker. Das ist alles höchst ehrenwert, aber warum Göring wurde, was er war, das geht weitgehend unter in all den Details. So entstand die erste Idee. Ich hatte Lust auf ein Buch, das die Persönlichkeit Görings nahbar und erfahrbar macht, ihn sozusagen dechiffriert.

Auch Sie haben sehr gründlich recherchiert, die Fußnoten und das Quellen- und Literaturverzeichnis umfassen allein 80 Seiten. Für welchen Leser haben Sie das Buch geschrieben?Für jeden, der neugierig und zeitgeschichtlich interessiert ist, der am Wochenende vielleicht durch Hugendubel, Dussmann oder eine kleine Buchhandlung im Stadtteil streift, das Buch dort liegen sieht und es mitnimmt. Der nach dem Mittagessen mit dem Lesen beginnt, nicht mehr aufhören kann und am Sonntagabend sogar den Beginn des „Tatorts“ darüber verpasst. Das wäre mein Idealleser. Abitur oder Studium oder nichts von beidem – völlig egal.
Es gibt auch familiäre Links Ihrerseits zu Göring. Sie schreiben über Ihren Vater, der als junger Mann zur Wehrmacht wollte und viele Jahre später „Ach, der dicke Göring!“ sagte, wann immer etwas über den Reichsmarschall im Fernsehen lief. Ihr niedergeschriebener Eindruck: „Doch es war keine Verachtung in seiner Stimme, sondern fast eine leise Ehrfurcht.“
Mein Vater meldete sich 1943 freiwillig zur Luftwaffe, da war er noch nicht mal 17. Er kam dann – zu seiner großen Freude – zur Division Hermann Göring, eine Elite-Einheit. Bei einer Übung am Granatwerfer verlor er sechs Finger und ein Auge, das hat ihn fürs Leben gezeichnet. Später war er treuer CDU-Wähler und tiefgläubiger Katholik. Er verachtete Figuren wie Hitler, Himmler oder Goebbels, aber Göring, das war eine andere Kategorie. Vielleicht, weil er stolz war, zu seiner Division gehört und nicht nur einfacher Soldat gewesen zu sein. Was genau da in ihm vorging, hat er nie erzählt.
Auch bei Ihrem Großvater mütterlicherseits gibt es eine Verbindung zu Göring, und Sie stellen dazu eine Frage im Buch, die sich wohl viele Nachfahren von Nazis, Wehrmachtssoldaten und Mitläufer heute noch stellen: „Welche manipulative Kraft muss ein Redner entfalten, um einen braven Schlossermeister und Familienvater in einen sadistischen Folterknecht zu verwandeln?“ Ja, das stimmt. Mein Großvater hat als SA-Truppführer im rheinischen Düren im Frühjahr 1933 die Folterung von politischen Gegnern befehligt, vor allem von Kommunisten. Ein kleiner Mann, der plötzlich das Gefühl großer Macht verspürte – verliehen von Hermann Göring. Anfang März 1933 hatte Göring in Frankfurt am Main eine Rede gehalten, mit der er eine halbe Million SA-Männer zum Losschlagen gegen die Gegner des Regimes aufstachelte. Es war das Fanal zu einer Welle der Verhaftungen und roher Gewalt. Auch mein Großvater, ein arbeitsloser Schlossermeister, hörte Görings Ruf. Er war derjenige, der im Dürener SA-Heim den Takt des Verhörs, den der Schläge und der Stiefeltritte bestimmte. Ich habe das vor einigen Jahren bei einer Recherche herausgefunden. Bis dahin hieß es immer nur: „Opa war in der SA.“ Vormittags ging er ins SA-Heim, abends kam er betrunken zurück. Mehr erfuhr man nicht. Nach dem Krieg wurde in der Familie nie drüber gesprochen.

Sie haben sich auch die Kindheit Görings genauer angeschaut, eine Zeit, in der die Persönlichkeit maßgeblich geprägt wird. Was haben Sie herausgefunden? In den älteren Biografien heißt es immer: normale Kindheit, gutsituierte Verhältnisse, der Vater ein hoher Kolonialbeamter. Ein Junge aus gutem Hause. Dass dieses Kind gleich nach seiner Geburt von der Mutter für anderthalb Jahre in eine Pflegefamilie gegeben wurde, wird völlig ausgeblendet. Und diese Methode des Abschiebens zu fremden Leuten wiederholt sich ständig. Während der Rest der Familie zusammen auf einer romantischen Burg lebt, muss Göring sich als Sechsjähriger, Achtjähriger oder Zehnjähriger ständig an neue Bezugspersonen gewöhnen. Der Vater – ein älterer, kränklicher und von seiner Ehefrau über viele Jahre gehörnter Pensionist – ist überhaupt keine Identifikationsfigur. Alles was ihm einfällt, ist: Man muss den Jungen noch härter an die Kandare nehmen. Mit zwölf Jahren schickt er seinen Sohn auf die Kadettenanstalt.
Wie hat das diesen Jungen geprägt? Was hat es mit seinem späteren Leben als Nazi Nummer zwei zu tun? Ich habe mir das von Psychologen erklären lassen, von Experten für frühkindliche Bindungen. Die Folgen solcher wiederkehrenden Beziehungsabbrüche sind desaströs. Kinder, die derart emotional verwahrlost aufwachsen, in einer Welt, in der auf niemand Verlass ist, sind kaum in der Lage, mit Gefühlen umzugehen. Sie entwickeln keinerlei Empathie. Aber sie entwickeln Wut – und die richtet Göring schon als Schüler gegen Geschwister und Gleichaltrige. Der Junge sucht und findet eine Antwort auf die fortwährenden Beziehungsabbrüche: dominantes, einschüchterndes und aggressives Verhalten. Er will stets der Anführer sein, der vermeintlich Schwächere befehligt und in die Unterordnung zwingt. Dank seiner Intelligenz ist er in der Lage, sehr schnell herauszufinden, wie andere denken und funktionieren, wie sie ticken und wie man sie für die eigenen Zwecke manipulieren kann – und wird zur Bestrafung dann eben wieder weggeschickt. Emotionslosigkeit und die Fähigkeit zur Manipulation – diese beiden Wesenszüge werden Göring bis zu seinem Selbstmord in der Nürnberger Gefängniszelle begleiten.
Im Buch danken Sie auch Ihren Kindern. Vor allem Ihr Sohn hat sich immer wieder mit Ihnen über Göring unterhalten und Fragen gestellt. Manchmal blieb ihm nichts anderes übrig. Er war ja direkter Zeuge des Schaffensprozesses; zu Beginn war er 18, jetzt ist er 22. Wenn er bei mir war, hat er oft meine Fassungslosigkeit mitbekommen. Da hatte ich zum Beispiel eine Äußerung von Göring gelesen, dass man einen Juden durchaus ungestraft totschlagen darf, wenn die Tat von gutem, deutschem Judenhass geleitet ist und nicht von Habgier. Und ich stapfte dann durch mein Arbeitszimmer und rief: „Er ist so ein Arschloch!“ Dann kam er und fragte, was los sei. Ich habe ihm oft Passagen zum Lesen gegeben; er war trotz seiner jungen Jahre ein kluger Ratgeber.

Wie haben Sie sonst Dampf abgelassen? Ich habe beim Schwimmen kräftig ins Wasser gehauen und manchmal musste ich mir auch – aus sozial-hygienischen Gründen – abends einen auf die Lampe gießen. Oder ich habe meinen armen Hund zugetextet. Matilda ist jetzt die einzige Göring-Expertin im Hundewald.
Sie schreiben, um Göring ranken sich einige Mythen. Und dass diese Mythen „das Manipulative, Berechnende und Bösartige in ihm verdecken, verklären und verharmlosen“. Wie meinen Sie das? Nun, da muss ich meinen Vater nochmal ins Spiel bringen. Sein mildes „Ach, der dicke Göring!“ werden inhaltlich einige immer noch teilen: Hitler, Himmler und Heydrich – das sind die düsteren Figuren, Göring ist der Buntschillernde, der Pfau, der seine Federn spreizt. Und das hat auch damit zu tun, dass ihn eine Reihe von Klischees begleiten: Göring, das freundliche Gesicht des Nationalsozialismus, Göring, der eigentlich gar nichts gegen Juden habe, und Göring, der doch gar kein richtiger Nationalsozialist sei, sondern ein mit Orden behängter, feister Operettenmarschall. Und natürlich Göring, der Morphinist.
Wieso sind das Klischees? Schauen wir uns mal einen Satz an, der Göring zugeschrieben wird: Wer Jude ist, bestimme ich. Das klingt fast milde für einen Nazi, ist aber die reinste Hybris. Damit macht er sich zum Herrn darüber, wer in die Deportation geht und wen er gnädig davonkommen lässt. Seine zweite Ehefrau, die Schauspielerin Emmy Sonnemann, bittet ihn ein paarmal, jüdische Kolleginnen in Schutz zu nehmen, damit sie weiter Rollen bekommen oder ausreisen dürfen. Den Gefallen tut er ihr dann. Ideologiefestigkeit ist nicht seine Sache. Aber natürlich ist er ein beinharter Antisemit. Mit seinen Verordnungen nach der Pogromnacht 1938 treibt er die Enteignung, Entrechtung und Degradierung der Juden maßgeblich voran – und schafft damit eine neue Realität, eröffnet neue Möglichkeitsräume, ohne die der Holocaust weder denkbar noch möglich gewesen wäre.
Und warum ist die Morphium-Abhängigkeit ein Klischee? Weil da Dinge durcheinandergebracht werden. Göring bekommt 1923, beim Marsch auf die Feldherrnhalle in München, einen Schuss in den linken Oberschenkel. Die Wunde entzündet sich, gegen die Schmerzen geben die Ärzte Morphium. Vier Jahre lang ist er schwer abhängig – bis zum Entzug in einer schwedischen Irrenanstalt, ganz hart mit Gummizelle und Zwangsjacke. Er ist gewalttätig, brüllt herum und deliriert. Ein späterer Morphium-Konsum in den 30er- und 40er-Jahren kann jedoch nie belegt werden. Alles beruht auf Mutmaßungen und Hörensagen. Insbesondere Görings Intimfeind Goebbels tut sich dabei hervor. In seinem Tagebuch finden sich reihenweise Einträge, dass Hitler dringend etwas tun müsse, weil Göring schon wieder der Droge verfallen sei.

Aber fand man nicht, als Göring im Mai 1945 von den Amerikanern verhaftet wurde, eine große Menge Drogen in seinem Gepäck? Ja, aber weder Morphium-Ampullen noch Spritzen und Nadeln, sondern 20.000 Paracodintabletten. Das ist ein schmerzstillendes Opioid, das heute noch als Hustenlöser verschrieben wird. Diese Tabletten nimmt er seit einer Kieferentzündung 1937 in immer höherer Dosierung bis zum Kriegsende. Bei Besprechungen hat er oft ein Schälchen mit Tabletten vor sich stehen und isst sie wie Erdnüsse. Aber sie sind viel schwächer dosiert als Morphium und wirken völlig anders. Paracodin schießt einen nicht für eine halbe Stunde in den Himmel, sondern wirkt leicht dämpfend. Der Kopf ist ein bisschen wie in Watte gehüllt. In der amerikanischen Gefangenschaft wird Göring fast problemlos binnen kurzer Zeit vom Paracodin entzogen. Wäre er morphiumsüchtig gewesen, hätte er drastische Entzugserscheinungen gehabt – wie 20 Jahre zuvor in Schweden. Trotz allem – die Legende des Junkies hat sich bis heute gehalten.
Er soll ja auch auf den einfachen Bürger sehr umgänglich gewirkt haben. Der amerikanische Gerichtspsychologe Gustave M. Gilbert, den Sie in Ihrem Buch erwähnen, schrieb über Göring, er sei „ein leutseliger Psychopath“. Genau, der Mann im Trachtenanzug und Jägerhut, der gern auf die Pirsch geht und sich auf dem Oktoberfest Bratwurst und Bier schmecken lässt. Aber das verklärt und verharmlost ihn total, es übertüncht das zutiefst Bösartige. Natürlich hat er sich gern in fantasievollen Uniformen präsentiert. Aber das ist nicht sein Genotyp, das ist sein Phänotyp, sein Äußeres. Weil er geltungssüchtig war und eitel, hat er sich entsprechend ausstaffiert. Schauen Sie sich mal Fotos von ihm aus dem Ersten Weltkrieg an, wenn er als junger, drahtiger Kampfflieger posiert: Er steht immer breitbeinig vor seinem Flugzeug. Sein ganzes Leben war breitbeinig!
Zeichnen Sie kurz ein Bild von Göring im Dritten Reich. Wo fängt man da an? Ein großer Ideologe oder gar Denker ist er nicht. Die Programmatik der Partei interessiert ihn nicht. Was man von ihm lesen kann, ist wirklich jämmerlich, so nach dem Motto: Den bösen Linken haben wir den Sozialismus und den bürgerlichen Nationalisten den Nationalismus entrissen und daraus hat Adolf Hitler ganz wunderbar den Nationalsozialismus geschmiedet. Das ist grauenhafter Brachial-Hegelianismus. Das Gleiche gilt für seinen Antisemitismus. Er verachtet die Juden schon in jungen Jahren. Aber was Himmler und Goebbels predigen, dieses rassenbiologische Zeug, das interessiert ihn überhaupt nicht. Er will das Geld und die Fabriken der Juden für seine Aufrüstung. Und die Gemälde für sich persönlich. Eigentlich will er immer nur wissen, wie er die nächste Karrierestufe nehmen kann: Wen muss ich aus dem Weg räumen, mit wem muss ich mich verbünden?

Wie ist sein Verhältnis zu Hitler? Lange Zeit haben sie ein gutes und enges, aber trotzdem distanziertes Verhältnis. Hitler verfügt ja auch, dass Göring an seine Stelle rücken soll, wenn ihm etwas zustößt. Es hat Göring schon gestört, dass er immer nur der Zweite geblieben ist. Das hat er später auch in Nürnberg gesagt: „Stellen Sie sich mal vor, Sie sind zwölf Jahre lang immer nur Kronprinz.“ Anfang der 20er-Jahre ist Göring ziel- und haltlos, ein Weltkriegsheld, für den es keine Verwendung gibt. Er braucht jemanden, der ihm Sinn und Richtung gibt. Hitler ist da genau der Richtige. Für Hitler wiederum ist Göring spätestens Ende der 20er-Jahre unverzichtbar, er verschafft ihm Kontakte zum Adel, zum Offizierskorps und zur Wirtschaftselite, zu den Schlotbaronen. Trotzdem bleibt es eine Zweckgemeinschaft. Hitler hat Göring nie geduzt, und er hat seinen Protz, seine Selbstdarstellung immer verachtet.
Doch dann fällt Göring in Ungnade bei Hitler. Ja, das beginnt schon vor dem Krieg. Hitler findet, dass Göring in der Sudetenkrise zu wenig Kriegsbereitschaft zeigt. Da gibt es den ersten Riss im Vertrauen. 1940 versagt Görings Luftwaffe dann in der Luftschlacht um England. Von da an geht es im Verhältnis zwischen den beiden Männern steil bergab. Hitler beschimpft Göring ständig, weil die Luftwaffe den britischen und amerikanischen Bombern immer weniger entgegenzusetzen hat. Tiefpunkt ist Görings vollmundiges Versprechen, die in Stalingrad eingeschlossene 6. Armee aus der Luft zu versorgen – ein Vorhaben, das völlig scheitert.
Wie reagiert Göring auf den Gunstentzug Hitlers? Aus den für ihn erniedrigenden Lagebesprechungen mit Hitler kommt er heraus wie ein geprügelter Hund. Aber er erträgt alles devot und widerstandslos. Vor seinem Führer schrumpft der zweitmächtigste Mann des Reiches zu einer kläglichen, selbstmitleidigen Figur. Und er zieht sich ins Privatleben zurück. Er macht lange Urlaube, fährt nach Amsterdam und Paris, um waggonweise wertvolle Gemälde zu raffen, vor allem aber geht er ausgiebig auf die Jagd – in Carinhall, seinem repräsentativen Gut in der Schorfheide oder im ostpreußischen Rominten. Die Hirsche sind ihm wichtiger als der Frontverlauf und Lagebesprechungen, auf denen man ihm sowieso nur schlechte Nachrichten überbringt. Nach der verlorenen Luftschlacht um England verliert er fast vollständig das Interesse am Krieg.

Und wie kam er mit Goebbels aus, der Hitler mindestens genauso ergeben war? Niemand hat wohl so über Göring geschimpft und gelästert wie Goebbels. Er hat ihn als Arschkriecher bezeichnet, als dumm wie Stroh und faul wie eine Kröte. Aber dann finden die beiden auch wieder eine perfekte Rollenverteilung, beispielsweise nach der Pogromnacht im November 1938. Goebbels gibt den Radikalen und geifert gegen die Juden, während der vermeintlich gemäßigte Göring die entscheidenden Verordnungen aus der Tasche zieht, mit denen die Juden geplündert und entrechtet werden.
In Nürnberg ist Göring zum Tod durch den Strang verurteilt worden, kam dem aber zuvor, indem er eine Blausäure-Kapsel zerbiss. Passt ein Selbstmord zu diesem Mann? Eindeutig ja. Er gewinnt damit einen letzten Machtkampf – den gegen das Gericht. Niemand soll die Genugtuung haben, den Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches hängen zu sehen. Nach seinem soldatischen Ehrenkodex verbietet es sich, erhängt zu werden. Ein Soldat wird erschossen.
Was ist Ihr persönliches Fazit nach vier Jahren mit dieser unseligen Figur der deutschen Geschichte? Göring ist unter allen NS-Größen der vielseitigste – ein politisches Multi-Talent mit manipulativer Brillanz. Er ist der Einzige, der als Hitler-Nachfolger infrage gekommen wäre. Aber er setzt all diese Fähigkeiten nur für seine eigenen Zwecke ein, für immer mehr Macht, Einfluss und Reichtum, nie für eine höhere Sache. Das macht ihn so gefährlich: Er ist nicht der ideologische Fanatiker, sondern der skrupellose Machtmensch, der Menschen wie Schachfiguren bewegt. Das zeigt: Es sind nicht nur die offensichtlich finsteren Gestalten, vor denen man sich hüten muss, sondern auch jene, die oberflächlich charmant und vielseitig daherkommen. Hermann Göring war kein tumber Operettenmarschall, sondern einer der gefährlichsten Männer des 20. Jahrhunderts.
Andreas Molitor: Hermann Göring – Macht und Exzess. Eine Biografie. C.H. Beck, 32 Euro
Berliner-zeitung