Verstehen, was in der Welt geschieht: Das sind die besten Sachbücher für die Sommerferien

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«Palästina 1936»von Oren Kessler
Rico Bandle · Über kaum einen Konflikt der Welt wird so viel berichtet wie über jenen zwischen Israel und den Palästinensern. Und doch ist den wenigsten klar, wo die Wurzeln dieser ewigen Auseinandersetzung liegen. Der in Tel Aviv lebende amerikanische Historiker Oren Kessler sieht den Schlüssel zum Verständnis im arabischen Aufstand von 1936. Um gegen die zunehmende Ausbreitung und Einflussnahme der jüdischen Einwanderer vorzugehen, rief der Grossmufti von Jerusalem zu einer Revolte und einem Generalstreik auf. Es kam zu einem blutigen Aufstand, der drei Jahre anhielt und 5000 Muslimen, 500 Juden und 250 britischen Kolonialkräften das Leben kostete. Für die arabische Seite war das Resultat verheerend. Der Streik ruinierte die eigene Wirtschaft, die arabische Gesellschaft war danach geschwächt, auch durch interne Kämpfe. Die Juden hingegen wussten die Notlage für sich zu nutzen: Sie bauten in Tel Aviv einen eigenen Hafen, weil jener von Jaffa bestreikt wurde, machten sich wirtschaftlich unabhängig und erschufen eine Gemeinschaft, die sich selbst ernähren und mit Waffengewalt verteidigen konnte. Dies ebnete den Weg zur Staatsgründung 1948, aber nicht zum Frieden. Der Aufstand von 1936, so der Autor, sei «für die Israelis und Palästinenser bis heute nicht vorbei». Erhellend ist das Buch vor allem darum, weil Kessler auch die Vor- und Nachgeschichte des Aufstands anschaulich erklärt, ohne selber Stellung zu beziehen. Er zeigt zum Beispiel, wie sich die Juden durch Landkäufe immer mehr Gebiete einverleibten und mächtige Araber, die öffentlich die Deals verdammten, heimlich selber das grosse Geld mit Landverkäufen machten. Und er nimmt auch überraschende menschliche Aspekte auf, etwa die langjährige Freundschaft zwischen dem Palästinenserführer Musa Alami und David Ben-Gurion, dem ersten Ministerpräsidenten Israels.
Oren Kessler: Palästina 1936. Der Grosse Aufstand und die Wurzeln des Nahostkonflikts. Hanser-Verlag, München 2025. 384 S., Fr. 39.90.
«Zeit der Magier»von Hans Wisskirchen
Thomas Ribi · Auch Schriftsteller, die man kennt, kann man neu entdecken. Und Jubiläen bieten keine schlechte Gelegenheit dazu. Thomas Mann zum Beispiel. Dieses Jahr wird sein 150. Geburtstag gefeiert, und mittlerweile ist man sich darin einig, dass man es mit einem Klassiker zu tun hat. Aber auch mit einem im Grunde unpolitischen Menschen. Das enervierend heftige Eintreten für den Obrigkeitsstaat, der sich überlebt hat, in den «Betrachtungen eines Unpolitischen», die Ablehnung der Weimarer Republik, der zögerliche Stellungsbezug gegenüber Nazi-Deutschland nach 1933 und die unklare Haltung im Kalten Krieg scheinen das Urteil zu bestätigen, das Joachim Fest in den achtziger Jahren gefällt hat: Thomas Mann sei «unrettbar fremd im Politischen». Und sein Bruder Heinrich genauso. Was die Politik betrifft, hatte Thomas Manns Sohn Golo seinen Vater und den Onkel als «unwissende Magier» bezeichnet: mit einem intuitiven Blick begabt, aber schlecht informiert und politisch naiv. Bei diesen Urteilen setzt Hans Wisskirchen ein und schreibt eine Doppelbiografie der ungleichen Brüder. Aus der Überzeugung heraus, dass man beide nur verstehen könne, wenn man sie gemeinsam in den Blick nehme. «Zeit der Magier» widerspricht dem Bild der unpolitischen Manns und zeigt, wie sich das Politische in ihren Werken unauflöslich mit dem Literarischen verband. In den «Buddenbrooks», dem «Zauberberg» und dem «Doktor Faustus» genauso wie in «Der Untertan» oder «Die Jugend des Königs Henri Quatre». Tiefpunkte werden nicht verschwiegen. Weder Thomas Manns Kriegsbegeisterung ab 1914 noch Heinrich Manns Verklärung des Stalinismus. Und vor allem gelingt es Wisskirchen zu zeigen, wie sehr das selbstbezogene Milieu des Lübecker Grossbürgertums die beiden Brüder politisch geprägt hat. Jeden auf seine Weise.
Hans Wisskirchen: Zeit der Magier. Heinrich und Thomas Mann 1871–1955. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2025. 464 S., Fr. 39.90.
«Briefe»von Oliver Sacks
Birgit Schmid · Als der Neurologe Oliver Sacks sich in Amerika zum Arzt ausbilden lässt, schreibt er seinen Eltern in England «Mammutbriefe», wie er sie selber nennt: seitenlange Beschreibungen seines neuen Lebens, dessen Freiheit ihn euphorisiert. Er berichtet von Wettkämpfen im Gewichtheben, die er bestreitet, und der Besessenheit, die Marke von 273 Kilos zu erreichen, «die Männer von Jungs unterscheiden». Er gibt Einblick in seine Kliniktätigkeit, wo er «Gehirne zerschnippelt», um Hirnerkrankungen wie Alzheimer zu erforschen. Sacks ist durch Bücher wie «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte» oder «Zeit des Erwachens» berühmt geworden, in denen er Geschichten über seine Patienten und ihre neurologischen Probleme erzählt: humorvoll, einfühlsam und menschlich. Diese «narrative Wissenschaft» beherrscht er auch in seinen Briefen, die nun gesammelt auf Deutsch vorliegen. Sacks war ein manischer Briefeschreiber sein ganzes Leben lang, intensiv tauschte er sich so mit seiner Familie, Forscherkollegen und Freunden aus. In Briefen an seine Liebhaber feiert er den «köstlichen Wahnsinn» der Liebe. Nach dem Tod der Mutter bekundet er dem Bruder «eine entsetzliche, frühkindliche Trauer». Er schrieb mit der Autorin Susan Sontag oder dem Schauspieler Robin Williams hin und her. Auch kurz vor seinem Krebstod 2015 hörte der 82-Jährige damit nicht auf. «Mit mir geht es zu Ende», wiederholt er in diesen letzten Briefen oft, als wollte er bis zuletzt bezeugen, dass er am Leben sei.
Oliver Sacks: Briefe. Herausgegeben von Kate Edgar. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2025. 1008 S., Fr. 67.90.
«Gefährliche Rivalitäten»von Werner Plumpe
Thomas Ribi · Seit dem Überfall auf die Ukraine setzt Russland Erdgaslieferungen als Druckmittel ein, um die EU-Staaten gefügig zu machen, US-Präsident Trump droht mit Zöllen, um die eigene Wirtschaft zu stärken, China kündigt Gegenmassnahmen an: Der Wirtschaftskrieg ist wieder da. Aber vielleicht war er gar nie verschwunden. Weil jeder Krieg auch ein Wirtschaftskrieg ist. Und es immer schon war, wie Werner Plumpe in seinem Buch «Gefährliche Rivalitäten» zeigt: Um sich militärisch durchzusetzen, konnte es für eine Kriegspartei in vielen Fällen entscheidend sein, dem Gegner auch wirtschaftlich zu schaden, indem sie ihm die Lebensgrundlagen zu entziehen versuchte. Oft eskalierten Kriege derart, dass die ökonomischen Folgen ungeahnte Dimensionen annahmen. Plumpe führt den Dreissigjährigen Krieg als Beispiel an. 1648 war das Gebiet des heutigen Deutschland verwüstet, auch wenn dies nicht das primäre Kriegsziel der gegnerischen Koalition war. Aber die deutschen Territorien verloren auf lange Zeit als wirtschaftlicher Faktor an Bedeutung, zum Teil bis in die Neuzeit. Wenn heute von Wirtschaftskrieg die Rede ist, geht es allerdings um anderes: um gezielte wirtschafts- oder handelspolitische Massnahmen, die andere Staaten als Konkurrenten schwächen und dem eigenen Land einen Vorteil verschaffen sollen: Embargos, Zölle, Handelshemmnisse. Plumpe schildert in seinem glänzend geschriebenen Buch anschaulich Beispiele von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Er zeigt, dass Wirtschaftskriege in einzelnen Fällen erfolgreich waren. Und erklärt, warum sie in der Regel beiden Parteien schaden.
Werner Plumpe: Gefährliche Rivalitäten. Wirtschaftskriege – von den Anfängen der Globalisierung bis zu Trumps Deal-Politik. Rowohlt-Verlag, Berlin 2025. 320 S., Fr. 38.90.
«Sind Flüsse Lebewesen?»von Robert Macfarlane
Marion Löhndorf · Robert Macfarlane war klar, dass die seltsam anmutende Frage im Titel seines Buchs nur schwer zu klären wäre: Sind Flüsse Lebewesen? Selbst wenn es Zeiten gab, in denen Flüsse als Götter galten und auch so benannt wurden: Dana (die spätere Donau), Deva (der Dee), Tamesa (die Themse), Sinnann (der Shannon). Macfarlane plädiert dafür, Flüsse nicht mehr nur als natürliche Ressourcen anzusehen, sondern als lebendige Gebilde. Zur Spurensuche bereist er Ecuador, Indien und Kanada, erzählt aber auch von den Wasserwegen vor der eigenen Haustür. Vor allem in England ist die Lage prekär, in den Medien machen Skandale um seine verschmutzten Gewässer fast täglich die Runde. Einst sauberes Flusswasser wurde gesundheitsgefährdend, und sogar das Schwimmen darin machte krank: «Als wir endlich die Augen öffneten und die Katastrophe sahen, war es schon fast zu spät.» Zeitgemässer könnte das Buch kaum erscheinen. Doch es ist kein ökologischer Essay. Macfarlane spannt seine Netze weit und verwebt wissenschaftliche, politische und soziologische Betrachtungen mit Zitaten aus Literatur und Philosophie und sehr persönlichen Reiseberichten. Hochelegant und leicht lesbar verbindet er Disparates. Sein Schreiben über die Natur ist mitreissend, überraschend und scharfsinnig und nur manchmal etwas esoterischer, als es dem Ganzen guttut. Ob im kurzen Abriss über unseren Umgang mit Flüssen oder in den Erzählungen über Menschen, denen er auf seinen Wegen zu den Quellen und Gewässern begegnet – man spürt die lyrische Naturbegeisterung des Autors, der auch als Literaturprofessor in Cambridge lehrt und zu Englands bekanntesten Naturschriftstellern zählt.
Robert Macfarlane: Sind Flüsse Lebewesen? Aus dem Englischen von Frank Sievers und Andreas Jandl. Ullstein-Verlag, Berlin 2025. 416 S., Fr. 44.90.
«Sein oder Spielen»von Dominik Graf
Andreas Scheiner · Wenn Dominik Graf über die Schauspielerei nachdenkt, dann denkt er zum Beispiel an einen «wirklich ganz grossen deutschen Schauspieler, der die seltsame Eigenart hat, nach jedem einzelnen Satz den Mund zu schliessen». Graf stört das, weil dadurch jeder Satz «etwas Endgültiges, Abschliessendes» bekomme. Er will unbedingt mit dem Schauspieler zusammenarbeiten, aber nur, wenn dieser den Mund nicht immer schliesst. Wie kann er es dem Mann beibringen? Bei den Proben will er seinen Darsteller nicht verunsichern. Sonst zerfleische sich der Arme beim Üben vor dem Spiegel: «Mein Gott, wie sehe ich aus, wenn ich diese Mundbewegung mache, ich muss mir das abgewöhnen, aber mein Gott, ich schaffe es nicht.» Besser sei es, den Schauspieler nach dem ersten Drehversuch darauf anzusprechen («leise»): «Das war doch super, aber kannst du mal den Mund nicht so zumachen nach jedem Satz, weil das sieht so aus wie ein Poststempel, mit dem du jeden Text abschickst.» Klar, einem Schauspieler so «mitten in den heissesten Arbeitsvorgang» zu grätschen, sei auch hart, gesteht Graf. Aber es wirke. Auf diese Art, schön salopp und unverblümt, erzählt der Regisseur – selber Sohn eines Schauspielers und einer Schauspielerin – von seinen Erfahrungen mit dem Berufsstand. Den Namen des Schauspielers mit dem Mundproblem verrät er leider nicht. Dafür gibt es vergnügliche Exkurse. Über «Trash-Schauspiel» in der Pornografie etwa. Oder der wirklich ganz grosse deutsche Filmemacher («Im Angesicht des Verbrechens», «Fabian oder Der Gang vor die Hunde») schwärmt von Hollywoodstars wie Robert De Niro und Al Pacino, die in Michael Manns «Heat» «ein komplettes Seminar über Machtkämpfe und Positionswechsel» in einer Szene ablieferten. Solchen Meistern muss keiner sagen, dass sie den Mund zumachen sollten.
Dominik Graf: Sein oder Spielen. Über Filmschauspielerei. Verlag C. H. Beck, München 2025. 391 S., Fr. 39.90.
«Die Verschwundenen von Londres 38»von Philippe Sands
Thomas Ribi · Am 16. Oktober 1998 wurde Augusto Pinochet verhaftet. Er hatte sich in einer Londoner Klinik einer Operation unterzogen und schlief, als die Polizei sein Zimmer betrat. Die Verhaftung des chilenischen Ex-Diktators löste weltweit Reaktionen aus. Freude, aber auch Unglauben darüber, dass es tatsächlich gelungen sein sollte, den Unfassbaren zu fassen. Vor allem aber stellten sich Fragen: Würde es gelingen, Pinochet für die Menschenrechtsverletzungen, die man ihm zur Last legte, zur Verantwortung zu ziehen? Unter welchem Titel? Und vor welchem Gericht? Die chilenische Regierung protestierte, Pinochets Sohn sprach von einem Verstoss gegen internationale Normen. Als ehemaliger Staatspräsident und Senator auf Lebenszeit genoss der Generalissimo ihrer Ansicht nach Immunität. Drei Jahre später stand Pinochet vor Gericht. Der britisch-französische Schriftsteller und Jurist Philippe Sands war am Prozess beteiligt. Er fing an zu recherchieren. Und stiess auf die Geschichte hinter der Geschichte. Im Zusammenhang mit einem anderen Buch war Sands auf Walther Rauff gestossen: den SS-Sturmbannführer und Gruppenleiter in Hitlers Reichssicherheitshauptamt, der für die Nazis mobile Gaskammern entwickelt hatte. 1949 war er nach Südamerika geflüchtet, hatte auf Feuerland eine Krabbenfarm betrieben und war Pinochets Experte für Verhör- und Foltermethoden geworden. Die Wege von Rauff und Pinochet kreuzten sich in Londres 38, einem unscheinbaren Haus in Santiago, das ab 1973 als Sitz der Geheimpolizei diente. Hier wurden Menschen verhört, gefoltert, getötet. Philippe Sands rollt in seinem glänzend erzählten Buch das Verfahren gegen Augusto Pinochet auf. Und erzählt vor seinem Hintergrund eine Geschichte von Gewalt und Mord, die sich über ein halbes Jahrhundert hinzieht.
Philippe Sands: Die Verschwundenen von Londres 38. Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2025. 624 S., Fr. 43.90.
«My Next Breath»von Jeremy Renner
Andreas Scheiner · An Neujahr 2023 wird der Hollywood-Star Jeremy Renner von einer sechs Tonnen schweren Pistenraupe überfahren. Es geschieht, als er die Auffahrt zu seinem Haus über Lake Tahoe, Nevada, freizuräumen versucht. Auf dem vereisten Asphalt beginnt das Raupenfahrzeug zu rutschen. Renner tritt aus dem Führerstand, um besser sehen zu können. Dabei verliert er das Gleichgewicht und wird in den Schnee geworfen. Führerlos steuert das Gefährt geradewegs auf seinen 27-jährigen Neffen zu. Der Schauspieler muss handeln. Hechtet zurück in Richtung Kabine. Doch der Sprung misslingt. Er stürzt vorn über das Kettenfahrwerk, schlägt zunächst heftig mit dem Kopf auf dem Boden auf. Dann überrollt ihn die Maschine. Sechs Räder hat die Raupe, jedes, so schreibt Renner, «umgeben von einer gerippten Kette aus 76 tropfenförmigen Stahlschwellen mit scharfen Enden». Er spürt, wie sich das Gefährt in seinen auf dem vereisten Asphalt liegenden Körper gräbt: «Schädel, Kiefer, Wangenknochen, Backenzähne: Wadenbein, Schienbein, Lunge, Augenhöhlen, Hirnschale, Hüfte, Elle, Beine, Arme, Haut, krach, knack, krach, quetsch, krach.» 38 Knochen (mindestens) werden gebrochen, wenn nicht zermalmt. «Tatsache: Ich kann mein linkes Auge mit meinem rechten Auge sehen», so schildert er, wie ihm ein Augapfel aus dem Schädel gedrückt wird. Wenn Jeremy Renner in «My Next Breath – Die Geschichte meines Überlebens» den Unfall beschreibt, wähnt man sich in einem Splatter-Horrorfilm. Und dann zunehmend in einem rührenden Drama. Denn der Mann, der als Marvel-Superheld Hawkeye zu heldenhaften Taten fähig ist, rekapituliert nicht nur den fatalen Neujahrsmorgen. Vor allem erzählt er die saftige, schön dick aufgetragene Survivor-Story von einem, der sich heroisch ins Leben zurückgekämpft hat. Das Buch hätte eigentlich auch das Zeug zum Film.
Jeremy Renner: My Next Breath – Die Geschichte meines Überlebens. Aus dem Amerikanischen von Johannes Sabinski. Penguin-Verlag, München 2025. 288 S., Fr. 37.90.
«Ananas»von Kaori O’Connor
Claudia Mäder · Es gibt kein Gericht, wirklich keines, das mit ihr nicht an Reiz gewänne. Steak? Saftiger mit Ananas. Hackbraten, Käse-Toast, Baked Beans? Alles besser mit süssen Scheiben! Vor gut hundert Jahren rieten Rezepthefte wie «99 leckere Ananas-Versuchungen» zum üppigen Gebrauch der Früchte. Ersonnen wurden sie von hawaiianischen Industriellen. Sie hatten um 1900 begonnen, Ananas in Dosen abzupacken, doch viele Konsumenten beäugten Büchsenware skeptisch – kostenlos mitgereichte Rezepttipps sollten helfen, sie auf den Geschmack zu bringen. Der Erfolg war durchschlagend, die Ananas ist heute nach der Banane die am zweithäufigsten verzehrte Tropenfrucht. Das ist bemerkenswert, denn lange war sie ein absolutes Luxusgut: Die Anthropologin Kaori O’Connor zeichnet die Karriere nach, die die Frucht durchlief, nachdem die Europäer sie im 15. Jahrhundert in der Karibik entdeckt hatten. Ihr zauberhaft gestaltetes Buch führt weit über den Tellerrand hinaus, mitten in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Die Geschicke der Ananas sind eng mit der europäischen Expansion verknüpft: Auf Schiffen der Spanier und Portugiesen gelangte sie in der Frühen Neuzeit nach Südamerika, Asien und Afrika – nur daheim auf dem alten Kontinent wollte sie nicht gedeihen. Kluge Köpfe erfanden hier zwar erste Treibhäuser, um Ananas zu züchten, doch das gelang so selten, dass eine Frucht bis zu 2000 Franken kostete. Folglich kam Ananas nur beim Adel auf den Tisch. Erst als Dampfschiffe im 19. Jahrhundert die Einfuhr erleichterten, sanken die Preise – und als die Importe mit den Konserven schliesslich explodierten, verlor die Ananas, auf Steaks, Toasts und Baked Beans gelandet, jede Noblesse.
Kaori O’Connor: Ananas. Die Geschichte eines Aufstiegs. Aus dem Englischen von Andrea Kunstmann. Verlag Harper Collins, Hamburg 2025. 192 S., Fr. 34.90.
«Unerwünscht»von Stefanie Schüler-Springorum
Thomas Ribi · Am 8. Mai 1945 trat die Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Kraft. Der Zweite Weltkrieg war zu Ende. Offiziell. Doch es war nicht so, dass sich auf einmal alles geändert hätte. Noch einige Wochen lang fanden am letzten Sitz der deutschen Reichsregierung in Flensburg Kabinettssitzungen statt. Und bei vielen Deutschen überlebten die alten Überzeugungen. Antisemitismus und Rassismus gab es nach dem Krieg genauso wie während des «Dritten Reichs». Das versucht Stefanie Schüler-Springorum, Direktorin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, zu zeigen. Die Zahlen scheinen ihr recht zu geben. Noch 1950 waren knapp vierzig Prozent der Deutschen der Auffassung, es sei besser, «keine Juden im Land zu haben». Das gab man ihnen auch zu verstehen. Man war freundlich, unterstützte sie. Doch den Holocaust wollte man so rasch wie möglich vergessen. Und dabei waren die Juden im Weg. Allerdings nicht nur sie. Am Beispiel von Sinti und Roma sowie Homosexuellen, die von den Nazis ebenso verfolgt wurden, zeigt Schüler-Springorum, wie hartnäckig sich Vorurteile in der Bevölkerung hielten. Und bei den Behörden. Noch in den fünfziger Jahren bezeichnete der Bundesgerichtshof «Zigeuner» als «primitive Urmenschen». Das Buch fokussiert auf die Perspektive der Opfer. Das ist legitim, und die Autorin räumt selbst ein, dass es «einseitig» sei. Antisemitismus gab es nicht nur in Deutschland, aber hier war er mit der Shoah auf apokalyptische Weise Realität geworden. Um Fahrende und Homosexuelle zu diskriminieren, muss man kein Nazi sein. Deutschland hat sich nach dem Krieg gewandelt. Aber für die von den Nationalsozialisten Verfolgten war es noch lange ein kaltes Land. Das zeigt Schüler-Springorum eindringlich.
Stefanie Schüler-Springorum: Unerwünscht. Die westdeutsche Demokratie und die Verfolgten des NS-Regimes. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2025. 256 S., Fr. 37.90.
«Der Urknall unserer Sprache»von Laura Spinney
Paul Jandl · Wenn es in der Entwicklung von Sprachen so etwas wie Erfolgsgeschichten gibt, dann wäre das eine. Drei von fünf Menschen weltweit sprechen heute eine indoeuropäische Sprache. Über die griechischen Tragödien, den «Beowulf» bis zu den indischen Veden spannt sich ein Kulturkreis, dessen erste Ursprünge bis vor kurzer Zeit nicht klar verortet werden konnten. Die britische Wissenschaftsjournalistin und Schriftstellerin Laura Spinney bringt jetzt in ihrem bewusst erzählerisch geschriebenen Buch «Der Urknall unserer Sprache» Licht ins Dunkel. Es ist eine Abenteuergeschichte, die zeigt, auf welchen komplexen Wegen das forschende Miteinander von Genetik, Archäologie und Linguistik neue Erkenntnisse bringt. Den «Urknall», der sich wahrscheinlich weniger plötzlich ereignet hat, als es der Titel suggeriert, verortet Spinney auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Vor ungefähr sechstausend Jahren vermischten sich dort alteuropäische Stämme mit Nomadenvölkern aus der Kaukasus-Wolga-Region, und es entstand die sogenannte Jamnaja-Kultur. Ein revolutionäres, alte Ordnungen umstürzendes und sich rasch nach Westen und Osten ausbreitendes Phänomen. Die Sprache der neuen Nomaden war ein Teil dieses Siegeszugs. Das Indoeuropäische hatte hier seine Anfänge und verzweigte sich im Lauf der Jahrtausende weiter. Laura Spinneys flamboyantes Buch bemüht sich um die Aufbereitung von Sachwissen gleichermassen wie um Lesbarkeit. Ein politisches Fazit aus sechstausend Jahren indoeuropäischer Kultur gibt es auch: Sprache braucht Veränderung, sie braucht Durchlässigkeit, sonst stirbt sie einen grausamen Tod.
Laura Spinney: Der Urknall unserer Sprache. Aus dem Englischen von Stephanie Singh. Hanser-Verlag, München 2025. 336 S., Fr. 39.90.
«Atlas der Kunstverbrechen»von Laura Evans
Philipp Meier · Leonardo, Monet, Cézanne: Grosse Kunst fasziniert. Noch mehr aber sind viele fasziniert von den grossen Kunstverbrechen. Wobei weniger der Vandalismus von Klimaaktivisten gemeint ist, die bedeutende Bilder mit Farbe beschütten oder sich an Leinwände kleben. Bei Kunst und Kriminalität denkt man eher an den Diebstahl der «Mona Lisa». Die Dame mit dem rätselhaften Lächeln gilt als das berühmteste Kunstwerk überhaupt. Das aber war nicht immer so. Zu ihrem Ruhm kam sie nämlich durch einen Diebstahl. Im August 1911 wurde sie von drei italienischen Brüdern aus dem Pariser Louvre entwendet. Erst dadurch wurde sie weltberühmt. Wie es zur dreisten Entführung der Gioconda kam, wie dieses Meisterwerk von Leonardo da Vinci auch genannt wird, aber vor allem auch, wie sie mit grossem Tamtam wieder in den Louvre zurückkehrte – als erste Ikone der Massenkunst sozusagen –, diese spannende Story erzählt die amerikanische Kunsthistorikerin Laura Evans. Selber in den Bann der filmreifen Raubüberfälle oder unverfrorenen Fälschungen geschlagen, lässt sie es in ihrem «Atlas der Kunstverbrechen» aber längst nicht bei dieser Geschichte bewenden. So stellt sie in dem gut bebilderten Band zahlreiche haarsträubende Fälle vor, darunter etwa auch jenen des wohl grössten Kunstfälschers: Beim Namen Elmyr de Hory, der schon Gegenstand von Romanen, Filmen und selbst eines Musicals wurde, bekommen Kunstsammler und Museumsdirektoren Gänsehaut. In den fünfziger und sechziger Jahren schuf de Hory Fälschungen von über tausend Werken, darunter zahllose Modiglianis. Viele befinden sich heute noch in namhaften Museen.
Laura Evans: Atlas der Kunstverbrechen. Diebstahl, Fälschung, Vandalismus. Prestel-Verlag, München 2025. 224 S., Fr. 49.90.
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