Gegenpol zu Putins Siegesparade: Ein Kunstprojekt verbindet Berlin mit Kiew

Auf einem Friedhof in Mitte holt uns ein Kunstwerk den Krieg in der Ukraine ins Bewusstsein. Die „Kyiv Berlin Metro Construction“ von Eric Pawlitzky und Norman Behrendt.
Auf dem kleinen St. Nicolai- und St. Marien-Friedhof gegenüber vom Soho House schimmern zwischen dem Grün blaue und weiße Fliesen. Was soll das für ein Grabmal sein? Auf den ersten Blick wirkt es wie ein überdimensionierter babylonischer Sarkophag, aber dafür sehen die Kacheln zu industriell aus und dann kommt auch noch ein großes weißes U in Sicht.
Was hat eine U-Bahn-Station auf einem Friedhof zu suchen? Gitter bedecken einen Schacht, aus dem einen die Geräusche des Verkehrs anwehen wie ein Raunen aus hohlen Gebeinen. Der Gedankengang hinab, den man als U-Bahn-Passagier alltäglich in der Wirklichkeit absolviert, bekommt hier eine okkulte Dimension: Auf dem Friedhof bildet eine U-Bahn-Treppe den Eingang zur Unterwelt. Oder ist es ein Ausgang? Ein Notausgang?
Es handelt sich um ein Kunstwerk von Eric Pawlitzky und Norman Behrendt. Sie berufen sich auf Projekte von Martin Kippenbergers „Metronet“ (1993-97), der ein weltumspannendes U-Bahn-Netz imaginierte, und auf die Arbeit „A metro in Gaza“ von dem palästinensischen Künstler Mohammed Abusal, der 2015 ein Netz von sieben U-Bahn-Linien im Gazastreifen vorschlägt, Tunnel gibt es da ja schon. Pawlitzky und Behrendt behaupten, dass uns die Linie mit dem U-Bahn-Stopp Friedhof direkt mit Kiew verbindet. Die kleine Verwalterhaus-Galerie feiert am 9. Mai Vernissage, an dem Tag, an dem Putin, der die Ukraine vor über drei Jahren überfallen hat, in Moskau auf dem Roten Platz die Siegesparade am Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus abnimmt.
Die U-Bahn in Kiew dient bei Luftalarm, wie vor 80 Jahren die in Berlin, als Bombenschutzkeller. Man hat die Bilder von Familien mit Kindern gesehen, die in den Zügen, auf den Bahnsteigen und Treppen kampieren, zu schlafen versuchen, ihre Angst mit der Suche nach Informationen bekämpfen, während russische Bomber und Drohnen die zivile Infrastruktur der Ukraine zerstören.
Ein Steinhaufen, der das Gewissen beschwertWer hätte gedacht, dass solche Bilder in Europa noch einmal entstehen? Und wer hätte geglaubt, dass man sich so prompt an sie gewöhnt und sie, um sich zu entlasten, aus dem Bewusstsein verdrängt? Es ist leichter, wenn man die eigene Wirklichkeit von der ein paar Flixbus-Stunden östlich abspaltet, Nachrichten weniger an sich heranlässt, vielleicht sogar genervt ist von dem Krieg da im Osten, für den man sich schon deshalb ein Ende wünscht, damit man sich nicht mehr mit seinem Gewissen und seiner Angst herumplagen muss.
Und dann rückt dieser Steinhaufen ins Bewusstsein. Was ist, wenn sich jetzt der Schacht öffnet und die Kiewer hier einströmen, stoßweise mit dem U-Bahn-Takt, wenn sie von dem Recht auf Sicherheit Gebrauch machen, das ihnen doch nicht weniger zustehen darf als uns hier in Berlin? Auch wenn wir uns an der Oberfläche abtrennen, bleiben wir darunter miteinander verbunden. Das Kunstwerk hilft uns, die Entfernung zu überspringen und wieder an die Nächsten zu denken.
Kyiv Berlin Metro Construction. 9. Mai bis 8. Juni, tgl. 8-18 Uhr am Verwalterhaus des Friedhofs St. Nicolai und St. Marien, Prenzlauer Allee 1, Eintritt frei
Berliner-zeitung